Der Zufall ist mein Regieassistent

Agnès Varda über ihr Gedanken-Zapping, ihre Liebe zur Poesie und den großen Einfluss der Surrealisten auf ihr Werk

critic.de: Man nennt sie heute die Großmutter der Nouvelle Vague. Wie kamen sie zum Kino?
Agnès Varda: Ich habe als Fotografin begonnen und vor allem viel im Theater fotografiert. So war ich bei der Arbeit oft mit Schauspielern und Geschichten umgeben und auch beim Entwickeln der Fotos in meiner Dunkelkammer zu Hause. Wahrscheinlich wollte ich deswegen relativ schnell eine eigene Geschichte erzählen. Und wo geht das besser als im Kino?

Der Anfang war für sie aber alles andere als leicht. 1954 haben sie Ihren ersten Film La pointe-courte gedreht.
Natürlich war es nicht einfach. Wer will einem 25-jährigen Mädel ohne finanziellen Hintergrund und ohne bekannte Schauspieler schon Geld für einen Film geben? Natürlich niemand! Deswegen beschloss ich eine Art Kooperative zu gründen, die für das Entstehen dieses ersten Films mit Rückstellungsverträgen und ohne Honorar arbeitete und gemeinsam in dem angemieteten Haus wohnte, das auch gleichzeitig unser Set war.

Unbekannte Schauspieler? Sie haben mit Philippe Noiret gedreht ...
Das stimmt. Aber der war damals noch genauso unbekannt wie Jean-Pierre Léaud, als Truffaut mit ihm drehte. Insofern ist mein erster Film schon zu einem Zeitpunkt der französischen Filmgeschichte entstanden, den man als Wendepunkt bezeichnen könnte. Jetzt erst begannen die Strukturen ein wenig aufzubrechen, und immer mehr Filmautoren versuchten nach mir auf eigene Faust ihre eigene Produktion durchzuziehen. Ein großes Risiko, aber der Verdienst war die größtmögliche Freiheit für die eigene Sache.

Diesen Geist, möglichst autonom zu arbeiten, haben sie bis heute behalten ...
Ja, weil ich finde, dass Filme „home made“ sein müssen. Und das muss man ihnen anmerken. Ich gestalte beispielsweise zu großen Teilen meine Filmplakate und schneide auch die Trailer für meine Filme selbst. Oft warnt man davor, weil es heißt, dass es dafür extra Trailerregisseure gibt und die Produzenten ohnehin besser über das Publikum Bescheid wissen. Aber ich habe ein Gefühl für mein Publikum. Und deswegen will ich es auch selbst ansprechen, selbst ein Signal aussenden.

Sie haben den Begriff der „cinécriture“ geprägt. Steckt in diesem Wort auch der Gedanke eines Filmautors drin?
Wahrscheinlich irgendwie schon. Mich hat es immer gestört, dass die meisten Menschen einen Film als „gut geschrieben“ bezeichnen, wenn sie von gut geschriebenen Dialogen sprechen wollen. Für mich macht der Dialog nur einen Teil des Films aus. Ich finde, ob ein Film gut oder schlecht geschrieben ist, hängt von all den kleinen Entscheidungen ab, die ein Filmemacher treffen muss: Gibt es ein reales oder ein künstliches Dekor? Besetze ich Laien oder Schauspieler? Drehe ich auf 35 oder auf 16 Millimeter? In Farbe oder in Schwarzweiß? Es gibt so viele Optionen! Selbst im Schnitt oder sogar in der Tonmischung habe ich noch tausend Möglichkeiten, mit dem gedrehten Material umzugehen. Für mich ist eben genau diese Abfolge von Entscheidungen die cinécriture. Und nur wenn all diese Entscheidungen miteinander harmonieren, kann man von einem gut geschriebenen Film sprechen.

Welche Rolle spielt die Poesie in ihrem Leben?
In meinem autobiografischen Film Die Strände von Agnès (Les plages d’Agnès, 2008) taucht neben vielen anderen Freunden und Bekannten auch die Witwe von Jean Vilar auf. Sie hat ihr Gedächtnis verloren und erinnert sich lediglich an Gedichte. Ich finde diese Geschichte unglaublich inspirierend. Wenn sich ein Mensch nur an die poetische Sprache erinnern kann, dann zeigt das doch, dass man sich vielleicht an so etwas Abstraktes wie Melodien oder Gefühle viel besser erinnern kann als an ganz konkrete und real erlebte Situationen. Mich hat das sehr beeindruckt, dass die Frau, die auch ihr Bündel an Leid zu tragen hat, sich an vieles nicht mehr erinnern kann, aber ohne Mühe Valéry, Baudelaire und Prévert zitiert. Natürlich hat sie ihr Leben lang Gedichte gelesen. Aber das ist eben auch geblieben in ihrem Leben.

Was genau hat sie an dieser Geschichte so fasziniert?
Ich habe mir in meinem Leben und vor allem auch in meinen Arbeiten immer wieder die Frage gestellt, wo wir die Wirklichkeit, die uns umgibt, aufbrechen und kleine Fenster in die Welt des Traums oder auch in die Leben und Gefühle unserer Mitmenschen öffnen können. Dieser Blick aus der faktischen Wirklichkeit heraus in ein anderes Leben hinein ist gerade in Bezug auf Leid und Schmerz sehr wichtig, denn wir sprechen von „Schmerz“ und haben doch alle ganz unterschiedliche Vorstellungen davon. Deswegen war mir die Geschichte dieser Frau, die allmählich alles bis auf die Dichtung vergessen hat, glaube ich, so wichtig. 

Was lieben sie an der Poesie?
So vieles. Die Dichtung ist mir unglaublich wichtig. Nicht nur, weil ich mit Gedichten aufgewachsen bin. Sondern weil sie eben diese Fenster in andere Seelenlandschaften öffnet. Und so kann man im besten Falle Luft holen in der Poesie.

Gedichte als Medizin?
Das geht vielleicht zu weit. Aber es ist schon schön, Gedichte laut vorzulesen. Dann kann uns die Dichtung wie die Musik bewohnen. Und vielleicht kann uns gerade sie Fenster und Türen öffnen, die beispielsweise die Malerei nicht öffnen kann, weil sie als Sichtbares doch wieder zu konkret ist.

Sie interessieren sich für die Dinge jenseits der Realität, für das Sur-Reale?
Das ist richtig. Ich bin stark von den Arbeiten der Surrealisten beeinflusst. Die freie, assoziative Collage unterschiedlicher Ideen und Gedanken ist ein Mittel, das auch ich oft in eine filmische Sprache umzusetzen versucht habe. Beispielsweise hatte ich für meinen letzten Film von Anfang an die Idee, Strände als roten Faden vorkommen zu lassen, aber zwischen diesen wiederkehrenden Bildern der unterschiedlichsten Strände, die in meinem Leben eine Rolle gespielt haben, verläuft der Film sehr kurvenreich.

Man kann im Falle Die Strände von Agnès fast von einem Gedankenstrom sprechen ...
Ja, so geht es mir auch oft beim Schnitt. Ich sitze da und denke mir, jetzt will ich davon erzählen, und dann fällt mir noch eine andere Geschichte ein, und im nächsten Moment habe ich wieder einen anderen Gedanken. Ich nenne das mentales Zickzack oder „Gedanken-Zapping“. Aber ich habe noch mehr von den Surrealisten gelernt: das Prinzip des Zufalls. Wenn ich zu drehen beginne, dann ist der Zufall mein Regieassistent. Der Zufall konfrontiert mich ständig mit neuen Gedanken, Menschen und Situationen und macht nicht selten die eigentliche Stärke einer Szene aus. Und bis es in den Schneideraum geht, lasse ich dem Zufall deswegen gerne freie Hand.

Wie lange haben sie an den Stränden von Agnès geschnitten?
Neun Monate! Allerdings mit kurzen Unterbrechungen. Denn wenn ich im Schneideraum merke, dass etwas fehlt, dann ziehe ich noch mal los, um mein Netz erneut auszuwerfen. Und diese Zeit muss man sich auch nehmen. Neun Monate klingt lang, aber gerade wenn man eine Collage macht, braucht man auch die Zeit, sich zwischendurch gehen zu lassen und auf das gedrehte Material einzulassen. Nur so kann man ihm zum Glanz verhelfen. Ich liebe diesen Vorgang!

Denken sie an Ihre Zuschauer bei den teilweise sehr persönlichen, assoziativen Verbindungen, die sie zwischen einzelnen Situationen schlagen?
Natürlich! Es ist wirklich mein Anliegen, die Emotionen meiner Zuschauer zu berücksichtigen. Das heißt, dass ich versuche, ihnen den Einstieg in meine Filme möglichst leicht zu machen, indem es zunächst um allgemeinverständliche Dinge geht. Ich möchte zunächst immer eine Grundlage schaffen, die jeder verstehen kann, eine Art gemeinsamen Ausgangspunkt. Und dann kommen meine ganz eigenen Gedanken-Bilder.

Ist es manchmal schwierig, diese Gedanken-Bilder in sichtbare Bilder umzusetzen?
Genau das ist ja die Hauptaufgabe des Kinos. Man muss sozusagen eine Form finden, wie man Geschichten, Gefühle oder Erinnerungen greifbar, sichtbar machen kann. Jedes Thema braucht seine ganz eigene kinematografische Entsprechung, sein eigenes Dispositiv. Mir fällt zum Beispiel gerade die Szene aus meinem ersten Film, La pointe-courte, ein, in der eine Leinwand mit einem Projektor durch das kleine Fischerstädtchen gezogen wird, auf die Bilder von dem verstorbenen Vater projiziert werden. So bewegt sich das Erinnerungs-Bild an den Vater, aber es bewegt sich auch deswegen, weil es von seinen Kindern selbst durch das Städtchen gezogen und bewegt wird. Mein Gedanke damals war, ein Bild für eine Begleitung eines geliebten, verstorbenen Menschen zu seiner letzten Ruhestätte zu finden. Insofern ist diese Szene ein ganz gutes Beispiel dafür, wie ein Gedanken-Bild über ein bestimmtes Dispositiv zu einem kinematografischen Bild werden kann.

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