Ambivalentes Erbe – Armenisches Kino in Berlin

Im Rahmen des Kulturfestivals „Armenian Allegories“ läuft ab Samstag eine Filmreihe, die sich der Vielfalt des aktuellen armenischen Kinos und der Frage des historischen Traumas widmet. Wir haben mit dem Kurator gesprochen.

Im Berliner Gorki Theater findet vom 24. April bis 31. Mai das Kulturfestival 100 + 10 – Armenian Allegories statt. Präsentiert wird zeitgenössisches armenisches Kulturschaffen aus diversen Disziplinen: Literatur, Bühne, bildende Kunst – und Kino. Das Filmprogramm vereint unter dem Titel „Keeping Up The House. Armenian Cinema At The Crossroad“ 24 Lang- und Kurzfilme. Wir haben uns mit dem Kurator und Kunsthistoriker Vigen Galstyan über die Auswahl unterhalten.

Lukas Foerster: In Deutschland verbindet man das armenische Kino vermutlich immer noch vor allem mit den Regisseuren Sergei Paradschanow und Artavazd Pelechian sowie deren ausgesprochen poetischen, experimentellen Ästhetiken. Ist das eine Tradition, die für das junge armenische Kino der Gegenwart wichtig ist? Oder sind das eher Positionen, von denen man sich absetzen möchte?

Vigen Galstyan: Ich wäre vorsichtig, Paradschanows und Pelechians Filmschaffen als „Tradition“ zu bezeichnen. Keiner dieser beiden Filmemacher hatte in Armenien je eine bedeutende Anhängerschaft, auch wenn ihr Platz in der Geschichte des armenischen Kinos deutlich erkennbar bleibt. Ihr Einfluss ist in anderer Hinsicht immens. Sowohl Paradschanow als auch Pelechians Filme waren Vorbilder eines gegen das Establishment gerichteten künstlerischen Kinos, das lokale Regisseure bis heute zu höchst subjektiven, individuellen Stilen des filmischen Erzählens inspiriert. Das ist vielleicht einer der Gründe, warum sich im gegenwärtigen armenischen Kino keine einheitliche „Neue Welle“ entwickelt hat (wie im postsozialistischen Rumänien oder in Georgien). Gleichzeitig ist das Erbe Paradschanows und Pelechians in seiner internationalen Sichtbarkeit überwältigend, und viele Filmemacher*innen der jüngeren Generation suchen in ihrem Geiste gezielt nach Wegen, um alternative Formen der visuellen Kultur und kulturellen Erfahrung Armeniens zu präsentieren.

Wenn man das Programm der Retrospektive überblickt, sind es vor allem zwei historische Konflikte, mit denen sich das armenische Kino der neueren Zeit wiederholt beschäftigt: der Völkermord 1915-1916, sowie die Kriege in Berg-Karabach seit den 1990ern. Täuscht dieser Eindruck? Wie kommt es, dass, zum Beispiel, die Zeit unter sowjetischer Herrschaft keine ähnlich große Rolle spielt im Filmprogramm?

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Unabhängigkeit Armeniens gab es kollektive Bemühungen, die Nation von der sowjetischen Vergangenheit zu distanzieren. Die Unabhängigkeit wurde als eine Form der „Befreiung“ von einem totalitären und imperialistischen Regime angesehen. Dadurch dominierten Filme, die sich auf den kollektiven nationalen Kampf um Emanzipation und historische Gerechtigkeit bezogen. Die internationale Anerkennung des Völkermords von 1915 an den Armeniern sowie die ungelöste Frage nach der Zukunft von Arzach [international als Berg-Karabach bekannt] standen im Mittelpunkt der politischen und kulturellen Agenda Armeniens, daher ist es nicht verwunderlich, dass diese Themen vorherrschen.

Das bedeutet jedoch nicht, dass das Spektrum des zeitgenössischen armenischen Filmschaffens damit erschöpft ist. Es gibt zahlreiche Sujets und Fragestellungen, die nicht im Programm enthalten sind, weil die Reihe einen sehr spezifischen Schwerpunkt hat: Sie untersucht, wie armenische Filmemacher*innen mit der Frage des historischen Traumas umgehen und wie sie sich bemühen, das kulturelle Gedächtnis trotz der Zerstörung durch Krieg und Völkermord zu erhalten und weiter zu vermitteln. Aber auch das ambivalente Erbe der sowjetischen Vergangenheit wird in Filmen wie Amerikatsi (2023) von Michael Goorjian oder Impuls (2018) von Vardan Danielyan behandelt, die beide in diesem Programm gezeigt werden.

Das Programm zeigt neben armenischen Produktionen auch Arbeiten deutscher und türkischer Filmemacher sowie Filme von Armeniern, die im Ausland leben. Generell scheint sich das armenische Kino auf eine internationale Rezeption hin zu öffnen. Wie wirkt sich das auf das Selbstverständnis der Filmemacher aus? Und: Wie wird diese Veränderung vom lokalen Publikum in Armenien angenommen?

Das zeitgenössische armenische Kino ist ein viel dynamischeres und wandelbareres Phänomen als noch unter dem staatlich kontrollierten Studiosystem der Sowjetzeit. Die Grenzen dessen, was heute „armenisches“ Kino ausmacht, sind deutlich breiter geworden und schließen sowohl Filme von Diaspora-Filmemacher*innen als auch von nicht-armenischen Filmemacher*innen ein, die Filme zu armenischen Themen drehen. Diese Entwicklung ist äußerst wichtig und trägt dazu bei, die hermetischen Strukturen der Sowjetzeit aufzubrechen. Der Hauptunterschied besteht darin, dass Filmemacher*innen die Freiheit haben, ihre kulturelle (oder transkulturelle) Zugehörigkeit selbst zu definieren und ihren Platz im Ökosystem der armenischen Kultur zu finden.

Dies ist vor allem deshalb so wichtig, weil armenische Filme eine Vielfalt historischer und zeitgenössischer Erfahrungen sowie auch individueller Befindlichkeiten widerspiegeln müssen – was früher eben äußerst schwierig war. Das einheimische Publikum ist sehr daran interessiert, sich von außen reflektiert zu sehen (so sorgte der Oscar-prämierte Film Anora von Sean Baker, in dem es zwei ambivalente armenische Figuren gibt, hierzulande für hitzige Diskussionen). Dennoch überwiegt nach wie vor eine Abneigung gegen selbstanalytische und kritische Erzählungen, da das einheimische sogenannte Massenpublikum beruhigende und positive Darstellungen auf der Leinwand gewöhnt ist. Diese Haltung wird zunehmend von Filmemacher*innen hinterfragt, die in einer „Außenseiterposition“ arbeiten – vor allem sind es Frauen, insbesondere Tamara Stepanyan, Christine Haroutounian und Inna Sahakyan.

Neben der Filmreihe präsentiert das Gorki auch Veranstaltungen zu armenischer Literatur, armenischer Kunst und armenischem Theater. Gibt es Verbindungen des armenischen Kinos zu diesen anderen Kunstformen? Befruchten sie sich gegenseitig oder existieren sie - wie das, glaube ich, in Deutschland oft der Fall ist - eher isoliert nebeneinander her?

Das ist eine knifflige Frage. Einerseits ist die armenische Kunstszene sehr vernetzt und eng untereinander verflochten. Die verschiedenen Bereiche stehen oft unabsichtlich in direktem Kontakt miteinander, da sie ähnliche Netzwerke nutzen oder auf dieselben Ressourcen zurückgreifen. Es handelt sich also um ein Ökosystem, das sich radikal von dem in Deutschland mit seinen dezentralen, multidisziplinären Strukturen unterscheidet. Gleichzeitig gibt es klare Spaltungen, die nach dem Zusammenbruch des zentralisierten Kultursystems in der UdSSR entstanden sind. Es wurde getrennt voneinander agiert, da es keinen direkten Anreiz oder Zwang für eine disziplinübergreifende Zusammenarbeit gab

Dafür gibt es viele Gründe. Während beispielsweise die armenische Theaterszene noch immer weitgehend von staatlicher Förderung abhängig ist, existiert die zeitgenössische Kunst nahezu vollständig isoliert von staatlichen Institutionen – daher verfolgen sie unterschiedliche, ja sogar gegensätzliche Ziele. Eine der „positiven“ (sofern so etwas überhaupt möglich ist) Folgen des Arzach-Krieges 2020 war aber ein bemerkenswerter Richtungswechsel. Wir haben einen starken Anstieg wirklich interessanter Kooperationen zwischen Akteuren in Bereichen wie Kino, Literatur, Theater, Design, Mode, Kunst und Architektur erlebt. Ich würde sagen, dass der Krieg ein neues Bewusstsein für geteilte Verantwortung geschaffen hat, und ich hoffe, dass sich diese Entwicklung noch verstärken wird. Viele unabhängige Institutionen, Kurator*innen und Produzent*innen wissen auch, dass sie interdisziplinär zusammenarbeiten müssen, um eine stärkere Kultur zu etablieren.

Aus dem Englischen ins Deutsche übersetzt von Gary Vanisian.

Zur Website des Festivals geht es hier.

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