Zu jeder Zeit – Kritik

Das Bekannte erlernen: Nicolas Philiberts neuer Dokumentarfilm über eine Azubi-Klasse fügt der Krankenhaus-Welt eine ungewohnte Ikonographie hinzu. Was die Überschriften der drei Akte von Zu jeder Zeit versprechen, können die Bilder zum Glück gar nicht einlösen.

Wenn filmische Klischees nichts anderes sind als die häufig wiederholte und dominant gewordene visuelle Auslegung eines speziellen Sujets, dann bestünde eine ästhetische Strategie des Dokumentarfilms, ihnen zu widerstehen, darin, den Blick möglichst offen zu halten: ohne Vorurteile und vorgefasste Thesen, aufmerksam und neugierig, eine flexible filmische Form, die sich nach der Realität richtet und nicht versucht, diese nach ihren bereits vorhandenen Vorstellungen zuzurichten. Das Interessante an Nicolas Philiberts neuem Film Zu jeder Zeit ist, dass er trotz oder gerade wegen der starren ästhetischen Form, in die er sein Sujet einfasst, Klischees vermeidet. Seine Beobachtung einer Klasse von Krankenpflege-Auszubildenden vollzieht er in drei Akten, deren strenge Bilder verschiedenen Abschnitten der Ausbildung untergeordnet sind. Drei Stationen auf dem Weg zur Arbeit in der Pflege, die er jeweils mit einzelnen Titeln überschreibt. Es beginnt mit „Das Flüchtige festhalten“, fährt fort mit „Im Dunkeln sehen“ und endet mit „Das Unaussprechliche sagen, dem Endgültigen begegnen“.

Unsicherheit beim Umgang mit Unsicheren

Tatsächlich haften sich diese auf Vereinfachung abzielenden Titel ziemlich hartnäckig an die jeweils halbstündige Seherfahrung, die sich danach entfaltet, machen dann aber vor allem darauf aufmerksam, dass das Bildmaterial gar nicht einlösen kann, was diese Worte zu versprechen scheinen. Vielmehr entfaltet sich ein Bild der Pflege-Tätigkeit, das komplexer erscheint. Nicht nur weil natürlich auch eine politisch-gesellschaftliche Dimension mitdokumentiert wird, so entscheiden sich etwa immer noch vorwiegend nicht-weiße Frauen für den Beruf in der Pflege. Sondern auch weil Philiberts Film den Blick immer wieder auf die vielfältigen Dynamiken zwischen den Auszubildenden, den Ausbildern und Patienten richtet: eine versteckte Verlegenheit, die manchmal in ein offenes Lachen abkippt, weil man die Handgriffe noch nicht perfekt beherrscht; eine leichte Unsicherheit beim Umgang mit echten Patienten, die wiederum selbst mal gleich unsicher sind und dann wieder viel selbstbewusster; aber nicht zuletzt auch der Stolz, einige Dinge in der echten Arbeit gemeistert zu haben und die Enttäuschung, andere kaum gelernt zu haben.

Gegen routinierte Bilderwelten

Ein wiederkehrendes Motiv lässt sich dann aber doch ausmachen, nur zeigt es sich in den Bildern selbst und Philibert, der Zu jeder Zeit auch selbst geschnitten hat, hat das wohl passendste und eindrücklichste gleich an den Anfang des Films gestellt: Ein paar Hände sind da zu sehen, wie sie weißen Schaum gegenseitig auf die eigenen Flächen reiben, dann in ziemlich mühsamen Verrenkungen gründlich über beide Fäuste, die Daumen, die Zwischenflächen und die Handgelenke verteilen. UV-Licht überprüft anschließend das Ergebnis: Ein paar Flächen wurden vergessen, manche wurden gar nicht desinfiziert. Es wird sich öfter im Film zeigen, dass auch ein bereits bekannter Vorgang erst gelernt werden muss, sodass er im Beruf später fehlerfrei abgespult werden kann. Dass es tatsächlich einer Menge Übung bedarf, bis eine Spritze ohne Bläschen gefüllt wird, und dass es keine Selbstverständlichkeit ist, eine Kanüle bei der Injektion nicht abrutschen zu lassen und um 90 Grad verbiegen, das ist letztlich auch eine Lektion für den Zuschauer, selbst gewöhnt an die routinierte Bilderwelt der Krankenhäuser und Arztpraxen. Bilder freilich, die nicht nur aus Film und Fernsehen stammen müssen, sondern sich ebenso als Gedankenbilder nach eigenen Arztbesuchen festsetzen.

Ähnlich ungewohnt sind denn auch Einblicke in die Pausen im Arbeitsalltag, in denen die Professionalität mal ausfällt. Die Grenze ins Private aber wird auch hier nicht überschritten, und selbst die persönlichen Probleme, die im Zuge der Evaluationsgespräche zwischen Auszubildenden und Ausbildern entstehen, werden nur im Hinblick auf den Arbeitskontext reflektiert: ein eigenes Unbehagen weil die Erwartungen im Beruf so hoch erscheinen, Streit mit anderen Kollegen auf der Arbeit oder ein Einbruch im eigenen Haushalt, der vom Lernen für die anstehenden Prüfungen abhält. Zu jeder Zeit ist ein Film, der sich ganz ausschließlich für den Beruf der Pflege interessiert – nicht für die Menschen, die ihn ausüben, aber für das Ausüben dieses Berufs durch Menschen.

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