Your Face – Kritik
VoD: Gesichter im XXL-Format. Nach seiner Ankündigung, das klassische Kino zu verlassen, zieht es Tsai Ming-liang mit Your Face zurück zu einer Urform des filmischen Zeigens.

Zwölf Gesichter hat Tsai Ming-liang für seinen neuen Film Your Face gefunden, Gesichter, die er gemeinsam mit Ian Ku in langen Großaufnahmen sorgsam abfilmt. Eines dieser Gesichter gehört natürlich Lee Kang-sheng. Die vielen Fans des Künstlers sollten und sollen seine Muse auf den ersten Blick erkennen. Alle anderen könnten auf die Idee kommen, es handele sich hier um eine rein dokumentarische Form. An welcher Stelle aber Lee Kang-sheng auftaucht, das ist nicht entscheidend. Oder doch? Fragen nach Ordnung und Rahmung mäandern durch die zumeist kaum definierbaren Räume des Films, die tendenziell unscharf und unmerklich im Hintergrund herumwirken, während sich im Zentrum des Bildes im XXL-Format feine Blicke und menschliche Regungen abspielen.
Künstlerische Logik hinter den Nasen
Dazu wird manchmal auch gesprochen – oder sogar erzählt. Etwa wenn eine feine Dame von ihrem Leben im Wohlstand berichtet und, angeregt durch die Fragen des Künstlers, erst nach und nach preisgibt, wann und wie sie einmal ohne Geld klarkommen musste. Wie in einem Krimi tasten sich die beiden gemeinsam in ihre Vergangenheit vor und damit vorbei an Klassenfragen hin zum anekdotischen Repertoire eines langen, bewegten Lebens. Andernorts wird gedöst und eine Zunge befreit sich endlich und scheinbar endgültig von der Last des Sprechens. Im Zentrum steht natürlich das Sehen: „It’s funny but the camera makes everything different“, sagt das Gesicht einer anderen Frau, die früh im Film herumguckt und einen grobschlächtigen Theorieaufschlag macht.

Dieses Zitat an dieser Stelle: Absurder Schritt eines Films, der andeutet, die undogmatische, freigestellte Beobachtung zu umarmen. Und so steht sie dann etwas aufdringlich im Raum und ist nicht recht loszuwerden, diese Frage nach einer künstlerischen Logik hinter den Nasen. Tsai Ming-liang – nach seiner in Venedig angekündigten Flucht aus dem Kino und seiner ersten Virtual-Reality-Arbeit The Deserted ein Verfechter des Installativen – lehnt in Your Face zumindest die synchrone Positionierung von Menschen nebeneinander im Raum in aller Deutlichkeit ab. Stattdessen reiht er die Gesichter nacheinander auf.
Die Übermacht der Köpfe stören
Tsai chronologisiert die Menschen zwar liebevoll, auch mit einer seltenen Eleganz bei der Wahl von Anfängen und Enden seiner Einstellungen, aber eben doch merklich. Und natürlich hat diese Chronologisierung Macht über die Menschen, die im Bild erscheinen. Wer bleibt im Gedächtnis und welches Gesicht kommentiert ein anderes über die direkte Nachbarschaft? Entwirft der Fortgang der Einstellungen nicht auch Hierarchien? Ein Zugeständnis an den unhierarchischen Fluss der Dinge und die manchmal entleerten Anordnungen der Welt macht dann die eine letzte Einstellung eines leeren Saals, die monumentartig aus dem Film hinausführt und eine Zäsur formuliert zwischen den filmisch aufgearbeiteten Menschen und den Leben, denen sie entrissen wurden. What happens in the film stays in the film.

Nicht zum ersten Mal reagiert Tsai auf Strukturen des Sichtbaren mit einem Sinn für das Musikalische und Rhythmische. Erstens, das überrascht hier weniger als dass es anrührt, bedient ein Mann zärtlich eine Mundharmonika und damit ein Instrument, für das es eigentlich eben nur einen Mund bräuchte – auch wenn seine Hände sich hier eindeutig als hilfreich erweisen. So nehmen Finger und Handballen prompt den seltenen Platz unter der Übermacht der Köpfe ein und grabschen im Bild herum. Zweitens, das ist wesentlicher, schleicht sich unerwartet der Komponist Ryūichi Sakamoto in diesen Film hinein, der Tsai in Sachen Renommee keineswegs nachsteht.
Sakamoto erscheint zwar nicht selbst als Gesicht, aber eben als Kopf hinter den feinsinnigen Klängen, die den Film an einzelnen Stellen durchziehen und für eine Art Dramaturgie sorgen. Allerdings eine Dramaturgie, die sich nicht als solche zu erkennen geben will, während sie durch Akzente und Spannungen doch die Gesichter in ihren Ungleichheiten auskostet. Tatsächlich markiert Your Face nach vielen Jahren den ersten Tsai-Ming-liang-Film mit einem Soundtrack (von musikalischen Tanzszenen einmal abgesehen) und für den Künstler damit zweifelsohne die Erschließung eines weiteren neuen grammatischen Feldes nach der virtuellen Realität. Ob die neue Klangebene Tsai mit dem Kino versöhnen kann?
Inszenierte Auflehnung

Nach seiner pompösen Jury-Auszeichnung für Stray Dogs wurde Tsais künstlerische Bewegungsfreude in Venedig auch in diesem Jahr gewürdigt – mindestens mit einem prominenten Programmplatz: Das Festival zeigte Your Face noch vor dem Festivalstart der Konkurrenzveranstaltung in Toronto und sortiert ihn damit als einen Künstler ein, mit dem sich das eigene Profil polieren lässt. Auch die Programmabfolge des Festivals selbst formuliert schließlich eine Chronologie, die ohne Wertigkeiten und Machtfragen nicht zu denken ist. Tsais frühe Premiere entpuppt sich als Privileg, das dem asiatischen Kino in diesem Jahr sonst nicht zuteil wird – abgesehen von Your Face wurden asiatische Filme, selbst die von Zhang Yimou und Shinya Tsukamoto, fast ausnahmslos in die letzten Festivaltage wegsortiert, während die Festivaldramaturgie ansonsten vor allem die neuesten Werke bekannter männlicher Autorenfilmer aus europäischen Gefilden und US-Oscarkandidaten verteidigt.
Und auch Tsais Film selbst in eine vergleichsweise harmlose Widerstandsgeste zum Kinobetrieb. In formbewussten Festivalprogrammen, etwa in Rotterdam, würde Your Face wohl lediglich durch den Namen seines Machers auffallen. In Venedig jedoch erscheint sein Film geradezu radikal, als inszenierte Auflehnung.
Der Film steht bis zum 11.07.2023 in der Arte-Mediathek.
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