Wir wollten alle Fiesen killen – Kritik
DOK Leipzig: Die Absurdität des Privatbesitzes. Jörg Heitmanns und Bettina Ellerkamps Wir wollten alle Fiesen killen sollte die Science-Fiction-Adaption eines Boris Vian-Romans werden. Doch zum Glück hatte die deutsche Filmförderung etwas dagegen.

Wer hätte gedacht, dass ausgerechnet das große Problem des deutschen Filmfördersystems mit Genreproduktionen für die Entstehung eines ziemlich tollen Films sorgen würde? Bettina Ellerkamp und Jörg Heitmann wollten 2003 eine Adaption des Science-Fiction-Romans Wir werden alle Fiesen killen von Boris Vian drehen, doch die Gremien versagten ihnen die Unterstützung, man solle lieber bei Dokumentarfilmen bleiben. Im gleichen Jahr aber hört Heitmann von dem Verkauf eines Berges im Thüringer Dorf Rothenstein und wittert die Chance. Der Weiterverkauf soll das Filmprojekt finanzieren, und so kauft Heitmann mit geerbtem Geld und einigen Geschäftspartnern tatsächlich den sogenannten Trompeterberg. 17 Jahre später ist er immer noch im Besitz des Berges und hat aufgehört, Filme zu machen. Ellerkamps und Heitmanns erster Film nach langer Zeit ist gewissermaßen die Geschichte eines Lebens mit dem Berg.
Hügelige Identität
Vom Science-Fiction-Projekt zu einem Dokumentarfilm über einen Berg bei Jena in Thüringen. Allein diese Entwicklung fasst Wir wollten alle Fiesen killen ziemlich gut zusammen. Tatsächlich aber sind die ersten Bilder gar nicht mal so weit weg vom eigentlichen Wunschprojekt der beiden Regisseure. Was Heitmann da erworben hat, ist nicht einfach ein grün bewachsener Hügel mit Blick auf Dorf und Fluss, das ist tatsächlich eine Art Bunker. Der ganze Berg ist durchzogen von ausgebauten Gängen, von insgesamt 40 Betontunneln mit 300.000 m2 Fläche, die zu durchlaufen es mehr als zwei Stunden dauern würde. Leuchtstoffröhrenlicht, schwerste Eisentüren und Atomkriegsatmosphäre inklusive. Später wird jemand mal sagen, dass es hier drinnen aussieht wie in einem Raumschiff, nur eben unter der Erde, oder wie in einem James-Bond-Film – die Location für das Science-Fiction-Projekt wäre den beiden also schon mal sicher.
In seiner ersten Hälfte ist Wir wollten alle Fiesen killen dann ein Film über die Historie dieses Berges: von Wildjägern, die hier von 12.000 Jahren gelebt haben sollen, über seine Namensgebung im Zuge des Dreißigjährigen Krieges, bis zur Bundeswehr, dem letzten öffentlichen Besitzer. Dazwischen liegt vor allem eine ganze Menge Zeitgeschichte, die durch die älteren Rothensteiner selbst vermittelt wird. Jeder scheint hier etwas mit dem Berg zu verbinden, hat hier entweder mal Champignons gesammelt oder Volksfeste gefeiert, hat hier schon mal gearbeitet, als das Ganze noch ein Waffenlager für die NVA war, kennt noch die Geschichten, wie hier vor dem Zweiten Weltkrieg Rohstoffe für die Porzellanproduktion abgebaut wurden. Aber eben auch wie im Nationalsozialismus Zwangsarbeit verrichtet wurde, wie sich später stationierte Soldaten der Roten Armee in den Bäumen erhängt haben, und wie dies der Schauplatz der eigenen Wendeerfahrung wurde. Heitmann und Ellerkamp begehen die Orte dieser Ereignisse meist mit den Anwohnern und materialisieren mit ihrer Spurensuche nicht nur Geschichte, sondern auch eine jahrelange Tradition des Lebens mit dem Berg selbst.
Nah am Mockumentary-Verdacht
Dass die zweite Hälfte des Films kaum noch mit den Rothensteinern zu tun hat, sondern ganz andere, oft im Anzug gekleidete und viel verschwurbelter sprechende Menschen trifft, das liegt denn auch im Fortgang dieser Geschichte begründet. Mit der Wende kommt der Berg in die Hände der Bundeswehr, die ihn nach teurer Sanierung aber kaum zu verwenden weiß und schließlich zum Verkauf in private Hände freigibt. In Wir wollten alle Fiesen killen wird der Privatbesitz damit zum Triebmotor der Absurdität und der Berg zum Magnet von Investoren und Geschichten aller Art. Heitmann wollte den Berg ursprünglich sofort an die Telekom weiterverkaufen, doch kurz bevor der Deal fix war, ist der zuständige Funktionär beim Joggen einfach tot umgekippt.
Nicht alle der Interessenten, von denen Heitmann und Ellerkamp dann erzählen, treten im Film auf. Vielleicht ist das aber auch gar nicht so schlecht, würde man angesichts mancher dieser Bilder sowieso eine Mockumentary vermuten: russische Oligarchen mit Bodyguards, die sich mit einem Messer die Fingernägel säubern, ghanaische Familien, die zum Tausch gegen den Berg eine afrikanische Goldmine anbieten oder ein sächsischer Hochstapler, der meint, Kontakte zu Putin zu haben, und mit 200 Kanarienvögeln einziehen will – mit allen sind die Verhandlungen über einen Verkauf wenig überraschend gescheitert.
Heitmann und Ellerkamp geben all das mit ziemlich trockenem Humor wieder, und in den schönsten Momenten ist die Welt in Wir wollten alle Fiesen killen sogar irrwitzig genug, um die Kamera einfach laufen zu lassen: mit welcher Selbstverständlichkeit der interessierte Chef einer Firma für Prepper-Behausungen mit dem Slogan „The elite shelter for the privileged few“ wirbt; oder wie ein mehr als dubioser und vorbestrafter Investor, der aussieht wie ein Kredithai aus einem Cartoon, im Interview manchmal die Kamera wie einen Kunden im Shopping-TV anspricht (12 Jahre Auto fahren ohne zu tanken: „Na? Is’ das nix?“). Wirklich merkwürdige Momente, auch im wahrsten Sinne des Wortes.
Geschichten einer Wende
Die größte Wendung in der Geschichte dieses Berges dürfte daher tatsächlich der Zusammenbruch der DDR sein, auch wenn einem der Film das nicht einfach so vorhält. Ganz und gar eigenartig erzählt Wir wollten alle Fiesen killen stattdessen davon, wie die Geschichte eines Ortes plötzlich verrückt spielt, wenn dieser zur Ware wird. Noch wo früher ein berühmter Baum stand, weiß ein alter Dorfbewohner Rothenburgs, aber die Geschichte des Berges kann er nur bis zum Zeitpunkt der Privatisierung erzählen. Auch eine Geomantin besucht den Berg einmal, um seinen Energieströmen nachzuspüren, und sie spricht davon, wie sehr die Ereignisse der letzten Jahre ihn verletzt hätten. Sicherlich ist auch sie eine kleine Merkwürdigkeit des Films. Aber vor dem Hintergrund der grotesken Ideen und Vorhaben, von denen Wir wollten alle Fiesen killen sonst erzählt, erscheinen ihre diffusen Worte glasklar.
Noch bis zum 14.11.2020 kann man sich den Film hier ansehen.
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