Wind River – Kritik
Rhapsodie in Weiß: Rauchendes Mündungsfeuer im Schnee oder die Todessehnsucht des unsichtbaren jagenden Mannes. Taylor Sheridans Wind River ist The Searchers reloaded unter verkehrten Vorzeichen.
Ein Schuss peitscht durch die weiße Weite, zerreißt die winterliche Stille. Der Mann, der ihm zum Opfer fallen wird, weiß um sein Schicksal, den Bruchteil einer Sekunde lang zwischen dem geräuschvollen Austritt der Kugel und ihres Eintritts in seinen Körper. Es ist der Showdown eines Shootouts, der in die Filmgeschichte eingehen dürfte. Minuten fast ohne Worte, in denen Salven unterschiedlichster Feuerwaffen ein sinnlich orchestriertes Klangkonzert bilden.

Die tonale Ordnung steht scheinbar im Kontrast zum chaotischen Reigen der Figuren im Schnee. Aber nur auf den ersten Blick. So unkonventionell sich der bewaffnete Schlagabtausch auch Bahn bricht, so orchestriert ist die Attacke des einen nahezu unsichtbaren Außenstehenden. Dessen Ruhe und Souveränität, sein Kalkül und seine Kaltschnäuzigkeit, seine Rigidität und Erbarmungslosigkeit werden im Gegensatz zum hektischen Treiben der anderen erst illuminiert. Sie betreiben Nah- und Überlebenskampf. Er exekutiert. In seinen Handlungen geriert der Showdown zur Hinrichtung.
Very very bad guys

Sehr, sehr finster fiese Männer werden aus sicherer Entfernung mit einem großkalibrigen Großwildjäger-Gewehr getötet. Das Geschoss lässt sie durch die Luft fliegen wie Stuntmen an Seilen in einem Wuxia-Film. Am Trigger ein Mann, der endlich die Möglichkeit bekommen hat, Menschen zu töten. Er ist die Identifikationsfigur in Wind River. Ein Film, der in dieser Konstellation erkennbar alttestamentarisch daherkommt. Der populäre Passus „Auge um Auge …“, historisch gemeint als Einführung des Verhältnismäßigkeitsprinzips in einem vormals noch drakonischeren Strafsystem, wird hier selten direkt übersetzt: Der Täter soll exakt so sterben wie sein Opfer.
Dem Opfer begegnen wir in einer unbehaglich schönen Sterbesequenz, die Wind River eröffnet. Eine junge indianische Frau, die getrieben und baren Fußes den tiefen Schnee durchwatet, ihn mit ihrem Blut tränkt. Gehetzt, verloren.
Auch hier sind Bild und Ton voneinander entkoppelt. Im Voice-over kommentiert die Sterbende poetisch ihr – und nicht nur ihr – Schicksal. In zweiter Instanz setzt die Tonspur einen Track, der musikalisch das Tempo des Thrillers bestimmt. Darüber – als dritte und direkteste Ebene – schreit und wimmert die Frau ihr schmerzhaftes Todeslied.
Sie trägt einen Silberring – als winziges Detail, das wir von ihr erfahren dürfen, ehe die Kamera diese Nähe aufgibt und sich der Totalen hingibt, die ein Panorama eröffnet, das Wind River als Schnee-Western etabliert. Ehe sich das Weiß in der Haut von Ziegen wiederfindet.
Retro-Western

Dem ureigenen amerikanischen Genre hat sich Regisseur Taylor Sheridan bereits mehrfach auf unterschiedlichen Pfaden genähert. Als Autor von Sicario (2015), Hell or High Water (2016) und Wind River hat er ein Triptychon geschaffen, in deren Mitte sich sein neuester – und von ihm selbst inszenierter – Film verortet. Insofern, als sich Hell or High Water am wenigsten und Sicario am deutlichsten als Genrefilm positioniert. Das Actionpotenzial des letzteren Stoffes soll in der annoncierten Fortsetzung Sicario 2: Soldado, abermals nach Vorlage von Sheridan, ausgeschöpft werden.
Allen drei Büchern ist gemein, dass sie sich der amerikanischen Gegenwart über kriminelle Konflikte an einer Retro-Frontier nähern. Wo die anderen beiden Geschichten sich konkrete Grenzorte als Setting suchten, illustriert Wind River eine inneramerikanische Demarkationslinie. Sie zieht einen Trennstrich zwischen den indianischen Ureinwohnern und ihren Bezwingern. Während Hell or High Water innerhalb der Trilogie – und innerhalb des Kinos der vergangenen Jahre überhaupt – am trefflichsten und schmerzhaftesten den Status quo der USA analysiert, spürt Wind River am deutlichsten der amerikanischen Geschichte nach. Insofern – und in seiner mythologisch-ideologischen Textur – ist Wind River auch kein Neo-Western, sondern ein Retro-Western.
Lawine der Gewalt

Cory Lambert (Jeremy Renner) ist weißer Jäger indianischer Abstammung – und dadurch Grenzgänger. Er lamentiert. Persönlich den gewaltsamen Verlust der Tochter und übergeordnet die ebenso brutalen gesellschaftlichen Verschiebungen. Darin ist der Film so konkret wie Hell or High Water, wenn auch etwas weniger konsequent und präzise. Dafür überdeutlich: Eine Gruppe junger weißer Männer dringt in indianisches Gebiet ein und initiiert eine Lawine der Gewalt.
Diese Lawine begleitet Sheridan allerdings nicht linear, er schaut vielmehr achronologisch auf ihre einzelnen Eruptionen. Linear hingegen verläuft zunächst die Mördersuche. Um den Tod des jungen Mädchens zu klären, wird eine FBI-Profilerin (Elizabeth Olsen) ins Reservat geschickt. Gemeinsam mit Lambert folgt sie den Spuren im Schnee.

Jene Whodunnit-Detektion inszeniert Sheridan mit so großer Souveränität wie Individualität. Die Bildsprache ist elegant, Einstellungslängen und Montage ergeben einen so eigenwilligen wie bannenden Rhythmus. Ins Herz der Narration setzt er einen Flashback von grenzwertiger Brutalität. Die Gewalt darin ist abstoßender als in seinem Low-Budget-Regiedebüt Pain (Vile, 2011). Die Eindimensionalität der Antagonisten erinnert an die Death Wish-Reihe (1974–1994), deren ideologische Partitur auch Wind River durchzieht. Todesurteile werden hier mit moralischer Eindeutigkeit gefällt. Selbstjustiz ist nicht Gegenstand einer Debatte oder Ausdruck einer Dysfunktionalität wie in komplexeren Variationen des Genres. Ambivalent ist hier einzig der Protagonist. Ein Jäger in der Tradition von Ethan Edwards in Der schwarze Falke (The Searchers, 1956), dessen Selbstverwirklichung ganz in seiner Mission liegt.
Anachronistische Genderrhetorik

In dieser Tradition und damit seltsam anachronistisch bewegt sich auch die weibliche Hauptfigur. Reichlich deplatziert – das legen jedes Bild und jeder Dialog nahe – findet sie sich im Reservat und in der Ermittlung wieder. Sie ist ganz auf Cory Lamberts Navigation und mehrmalige Rettung angewiesen. „Don’t you worry about it“, gibt der seinen weiblichen Mitmenschen ganz patriarchal mit auf den Weg. Erstaunlicherweise darf die junge Ermittlerin noch nicht mal auf der Ebene des Sentiments brillieren. Einer trauernden Frau gegenüber nähert sie sich völlig inadäquat. Hätte sie nur auf die Männer gehört, die es vorher besser wussten. Am Ende sind es denn auch zwei Männer, denen es gelingt, gemeinsam über sich selbst und ihren Verlust zu sprechen. Als sei sich der Film seiner dubiosen Genderrhetorik bewusst, versucht er ausgerechnet, ein weibliches Opfer als Märtyrerin zu stilisieren – mit männlichen Attributen. Der Zähigkeit ihres Todeskampfes verdankt sie das Attribut „warrior“.
Die Eindimensionalität sowohl der weiblichen Figuren als auch der Antagonisten als Reflex auf das Genre zu reduzieren, würde Sheridans in anderen Elementen so individuellen wie innovativen Umgang mit dessen Erbe ignorieren. Denn Wind River als Jagd des Halbindianers auf den weißen Mann ist nicht nur die Umschreibung von The Searchers. Die von Weißen misshandelte Indianerin ist auch eine Umkehr einer der wirkungsmächtigsten amerikanischen Mythologien überhaupt, der Captivity Narrative.
Gewaltiges Kinomanifest
In diesen Widersprüchlichkeiten, die in scheinbarem Kontrast zur so souveränen wie konsequenten Ästhetik stehen, entwickelt Wind River eine Borstigkeit und einen Eigensinn, die seinen Ausnahmezustand im aktuellen Kino nur noch zementieren.
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Kommentare
ijb
Mit "Bild und Ton voneinander gekoppelt" meinen Sie "miteinander gekoppelt" oder "voneinander entkoppelt"?
1 Kommentar