Wildlife – Kritik
Und was, wenn die Familie schon immer verdorben war? Paul Dano arrangiert ein klassizistisches Drama der kleinen Gesten um das Auseinanderdriften von Mutter, Vater und Sohn. Wildlife wirkt wie aus der Zeit gefallen.

Nein, heil war diese Familie vermutlich nie. Und doch ist der Bruch, der sich im Gesicht des 14-jährigen Joe Brinson abzeichnet, als er aufhört, seiner Mutter zu vertrauen, heftig. Ed Oxenbould, der ihn spielt, ist mit seinem bübisch-naiven Gesichtsausdruck, dem offenen Blick und dem Mittelscheitel der Resonanzraum der familiären Gefühlslagen. Sein Joe ist ihnen vollkommen ausgeliefert. In drei recht dicht aufeinanderfolgenden Szenen gegen Ende des Films muss Joe Dinge mit ansehen, die er nicht sehen will, zu denen er sich gleichwohl hingezogen fühlt, weil sie die Welt der Erwachsenen verheißen und nach (eher schlecht denn recht gehaltenen) Geheimnissen riechen. Es sind Szenen, in denen das Spiel aus Andeutung, Projektion und Metamorphose, das zum Grundprinzip von Wildlife gehört, voll aufgeht.
Entwicklung in Richtung Vereinzelung

Eine Verfehlung wird angedeutet, Gefühle werden in die Gesichter und Bewegungen projiziert, die Situationen wandeln sich, um Neuem Platz zu machen. Im Zentrum von Paul Danos Regiedebüt Wildlife, dessen Drehbuch er gemeinsam mit Zoe Kazan auf der Grundlage von Richard Fords Roman verfasst hat, stehen die Darsteller und die von ihnen verkörperten Figuren, die irgendwo zwischen unscheinbar und Archetyp changieren. Dass sie, allen voran Carey Mulligan als Mutter Jeanette, brillieren können, und das tun sie, ist einer berückend schönen, intensiv zurückhaltenden Bildgestaltung zu verdanken. Diego García, der für sie verantwortlich zeichnet, hat in jüngeren Jahren die Bilder so unterschiedlicher Filme wie Cemetery of Splendour (2015) von Apichatpong Weerasethakul und Neon Bull (Rodéo) (2015) von Gabriel Mascaro eingefangen.
Für Paul Dano lässt García ein Dorfleben im Montana der 1950er entstehen, legt aber die meiste Aufmerksamkeit auf die Familiendynamik. Die leeren Straßen und der weite Horizont bestärken die Entwicklung in Richtung Vereinzelung, die, wie alle Probleme, von Anfang an da waren. Und obwohl manche Großaufnahme den Schauspielern erst zum vollen Ausdruck der mimetischen Nuancen verhilft, sind Totalen und Halbtotalen die Anker des Films, weil die Protagonisten in ihnen umso einsamer sind, ganz egal ob allein oder nicht. Wildlife ist ohnehin eine Feier menschlicher Ambivalenz und Unentschiedenheit. Carey Mulligan gibt davon die eindrücklichsten Bilder, in den Momenten, in denen sie sich wild entschlossen zeigt.
Scharf einbrechende Unsicherheit
Das Drama beginnt damit, dass Vater Jerry (Jake Gyllenhaal) seinen Job in einem privaten Golfclub verliert, weil er sich bei den reichen Kunden zu schnell zu beliebt gemacht hat oder die eine oder andere Grenze überschritten haben mag. Sein Stolz lässt ihn die Rücknahme seiner Kündigung am nächsten Tag nicht annehmen, und schon bald trifft er eine radikale Entscheidung, um dem Gesichts- und Jobverlust entgegenzutreten: Er meldet sich als Tagelöhner für den Kampf gegen die wilden Waldbrände und ist für Monate weg. Das Auseinanderdriften der Familie beschleunigt sich nun. Jeanette will wollen, etwas bewegen, die Handelnde und nicht die Zurückgelassene sein. Mulligan dabei zuzusehen, wie sie diese Entschlossenheit mit berstender Kraft und scharf einbrechender Unsicherheit spielt, wiegt beinahe die Trauer auf, die ihre Jeanette damit stiftet.

Ganz zu Beginn des Films gibt es so etwas wie eine glückliche Familienszene, in der Vater, Mutter und Sohn nah beieinander sitzen, über die neue Stadt sprechen, in der sie sind, über Zukunftspläne und den Matheunterricht von Joe. Man könnte es leicht für die Urszene halten, für eine Kontrastfolie, gegen die alle Bitterkeit und Trauer der nicht zusammenhaltenden Familie gehalten werden kann. Zur Klugheit von Drehbuch und Inszenierung gehört, dass schon hier der Nukleus am Explodieren ist und das Zusammensein als Provisorium gezeichnet wird, das Übereinanderliegen divergierender Positionen und Perspektiven noch im komödiantischen Modus porös erscheint, wie das in Familien so oft der Fall ist.
Während Joe, Jeanette und Jerry diesen gemeinsam-vereinzelten Modus verlieren, legt Wildlife zu keinem Augenblick nahe, es handele sich um ihr Schicksal, sondern zeigt vielmehr in seinen klaren Bildern die unweigerlichen Auswirkungen ihrer konkreten Handlungen. Wie handfest er vorgeht, fast gänzlich unter Verzicht auf große Gesten, die so naheliegend wären, weil seine Erzählung wie das Musterbeispiel einer melodramatischen Konstellation erscheint, ist bemerkenswert. Selbst bis in die dann doch ein bisschen explizit dramatische Steigerung der Konflikte hinein betont Dano die scheinbar nebensächlichen Details von Setting und Atmosphäre. Sie sind essentiell dafür, dass sein Spiel mit Andeutung, Projektion und Metamorphose aufgeht, und das tut es bis zum Schluss.
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