Vulva 3.0 – Kritik
Von queeren Filmen und dem Queeren des Films, mal wieder.
Beginnen wir mit einem anderen Film aus dem diesjährigen Panorama-Programm, Fucking Different XXY (2014): Als man die nächste Schicksalsgeschichte einer transsexuellen Frau erzählt bekommt, auf die eine nostalgische Hommage an eine mittlerweile geschlossene Lesbenbar in New York folgt, schließlich eine Performance, in der alles drunter und drüber geht, ist man doch ein wenig ernüchtert. Es ist ja nicht so, dass die Lebensgeschichten nicht mehr berühren oder sogar wütend machen würden, dass die heterotopischen Räume einer anderen Sexualität es nicht verdient hätten, erinnert und gefeiert zu werden, oder dass die genderbendenden Shows und Videomontagen nicht weiterhin wichtige Fluchtlinien ziehen würden. Und doch hat man bei diesem aus sechs Kurzfilmen bestehendem Projekt das Gefühl, das alles schon mal gesehen zu haben, angekommen zu sein in Queertopia, wo man vielleicht auch hinwollte. Aber ankommen, das wollte man andererseits gerade nicht, das wollte man den anderen überlassen. Queeren ist nicht umsonst zum Verb geworden.

Die Fucking-Different-Reihe ist bei all ihrer Relevanz für die Sichtbarmachung queeren Lebens auf der Welt, die Erschließungen von Räumen, die Aneignungen von Leben, mittlerweile doch auch Symptom für einen gefährlichen Stillstand. Ist das wirklich alles? Kann man es belassen bei avantgardistischen Gesten, mit denen wir scheinbar eindeutige Geschlechtsmarker munter auf Körpern verteilen, Rollen vertauschen, Machtverhältnisse in Lust auflösen? Kann man es belassen beim Erinnern an Raum-Zeit-Konstellationen, in denen für marginalisierte Menschen ein Gefühl von „Heimat“ entstanden ist? Was tun wir mit den gesammelten Biografien, mit den Einzelschicksalen? Mit welchen Elementen im genormten sozialen Raum verbinden wir sie?
Vulva 3.0 ist der vermeintlich konventionellere und doch anregendere Film, weil er zwar auf sehr klassische Mittel des Dokumentarfilms zurückgreift, dabei aber neue Fragen stellt, weil er einen Schritt zurückgeht und daran erinnert, dass der diffuse Begriff von Heteronormativität nicht ausreicht, um das zu beschreiben, was es zu queeren gilt. Wie in Fucking Different gibt es im Film von Claudia Richarz und Ulrike Zimmermann viel Nacktheit, aber es geht weniger um die subversive Nacktheit, die unsere Sehgewohnheit verwirren soll, sondern um die zunehmend normierte Nacktheit zwischen den weiblichen Beinen. Wie schon der Titel sagt, ist Objekt des Films das weibliche Geschlechtsorgan. 90 Minuten lang wird über Mösen geredet, über innere und äußere Schamlippen, über die Klitorisperle und ihre Schenkel, Schwellkörper, die viel größer sind als in den meisten Schulbuchillustrationen – im Modus einer Kulturgeschichte der Vulva, die das Heute streng als Gewordenes interpretiert.
Das ist zunächst einmal herrlich erheiternd. Sexualpädagoginnen stellen mit viel Lust und Witz verschiedene Vulva-Modelle vor, die sie in den Schulunterricht einzubringen versuchen, aus Stoff oder Plastik, und die den vielfältigen Ausgestaltungen des Organs gerecht werden wollen. Das komplexeste dreidimensionale Modell integriert sogar die Arschbacken, damit das Becken aufrecht und selbstbewusst auf dem Tisch steht und nicht liegt – wichtiger Feminismus in den Dingen. Das Problem, das diese pädagogischen Hilfsmittel angeht, ist dagegen ein ernstes: Mit Fotos und expliziten Darstellungen kommt man nicht mehr weiter, weil sich auch und gerade die weiblichen Schülerinnen das nicht mehr angucken wollen. Realistische Darstellungen der Vagina sind ein merkwürdiges Tabu.
Unsere Vorstellungswelt bezüglich der Vulva ist im wahrsten Sinne des Wortes beschnitten, und wird das jeden Tag. Erzwungene Beschneidung: In Vulva 3.0 lernen wir eine Aktivistin gegen weibliche Genitalverstümmelung kennen, die ihre Arbeit nicht etwa angefangen hat, weil sie Afrika retten wollte, sondern sich als Afrikanerin darüber wunderte, wie beharrlich die deutschen Unterstützer an der Vorstellung festhielten, die weiblichen Opfer seien zu keiner sexuellen Lust mehr fähig. Gewollte Beschneidung: In der Praxis einer Intimchirurgin werden täglich junge Mädchen empfangen, die sich ihre Schamlippen verkleinern lassen wollen. Digitale Beschneidung: Ein im Film porträtierter Mann ist bei einem Softporno-Mag dafür zuständig, zu weit herunterhängende Schamlippen sich räkelnder Models per Photoshop zu stutzen. Als er später einmal zum privaten Bezug zu dieser Arbeit befragt wird, sagt er aus, die Größe der Schamlippen sei für ihn zwar kein wichtiges Kriterium bei der Partnerwahl, er sei aber doch stolz, dass die seiner Partnerin schön klein seien.

Bei derlei Gegenwartsdiagnosen ist es leicht, die vermeintlichen Apologeten eines Schönheitsideals, das jede Unregelmäßigkeit tilgen will, bloßzustellen, oder auf jene Frauen hinabzublicken, die sich einen schöneren Intimbereich wünschen und dafür keine Kosten und Mühen scheuen – man tappt schnell in die Falle unkritischer Gegenideale von Natürlichkeit. Doch Richarz' und Zimmermanns Vulva-Projekt funktioniert glücklicherweise nicht über die Skandalisierung, sondern nähert sich der gegenwärtigen Situation genealogisch. Kontinuität stiftet dabei einzig und allein die zu allen Zeiten präsente Diskursdichte um weibliche Sexualität. Von den Beschwörungen einer Macht der Vulva in der Antike bis ins Mittelalter, über die Geschichte Sarah Baartmans, jener mit „monströsen“ Schamlippen in London aufgetretenen „Hottentotten-Venus“ – die sowohl als Beweis für den ungezügelten Charakter schwarzer Sexualität wie auch für die kausale Verknüpfung von Zivilisierungsprozess und Rückbildung der Vulva galt – bis zum Backlash gegen explizite Aufklärungsbücher unter dem Deckmantel des Kampfes gegen Pornografie.
„Die Tendenz geht zum Brötchen“, sagt eine der Filmemacherinnen am Ende, als sie das aktuelle Schönheitsduell untenrum beschreibt, meint damit die kaum sichtbare Vulva einer 12-jährigen. Und das ist dann doch noch mal ein interessanter Kniff: Denn was die realistischere, der Vielfalt gerecht werdende Darstellung weiblicher Geschlechtsorgane verhindert, das ist ja gerade jene Zensur, die in den 1970er Jahren noch verbreitete sexpädagogische Werke auf den Index setzte – häufig genug mit dem Verweis auf Kinderpornografie. Die kulturell wirkmächtige Darstellungsform der jugendlichen Vulva nähert sich also einem Bild an, das niemals explizit werden darf. Eine queere Kritik muss sich auch der komplexen Geschichten dieser Paradoxa annehmen, jener Strategien also, die nicht gegen eine Vielfalt sexueller Orientierungen arbeiten, sondern ihre Normalisierung in anderen Bereichen vollziehen – zwischen den weiblichen Beinen zum Beispiel.
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