Augenblicke: Gesichter einer Reise – Kritik
Agnès Varda und der Fotograf JR inszenieren sich in ihrem gemeinsamen Dokumentarfilm als nobles Künstlerpaar, das der tristen Provinz ein wenig Zauber beschert.

Dass jede Dokumentation unweigerlich auch ihren Macher dokumentiert, ist bekannt. Selten jedoch trat das zu Dokumentierende dermaßen zugunsten der Macher in den Hintergrund wie in Augenblicke: Gesichter einer Reise von Agnès Varda und JR. Ein geradezu ironisch anmutender Befund, streckt der Film doch dem Zuschauer mit einigem Pathos metergroße Porträts derer entgegen, die er zu dokumentieren vorgibt. Doch der Raum, der einem Gegenstand gewährt wird, bemisst sich nicht in Metern – und entspricht auch nicht notwendigerweise den Absichtserklärungen der Filmemacher. Geht es nach Varda (geboren 1928) und JR (geboren 1983), zeigt Augenblicke, wie die beiden frei durch das ländliche Frankreich mäandern, Menschen begegnen, aufmerksam ihren Geschichten lauschen und sie als „Hommage“ in ihre ephemere und dezentrale Galerie aufnehmen: übergroße Schwarz-Weiß-Porträts, die sie an Mauern, Wänden, Silos und dergleichen kleben.
Bringt dem kleinen Mann doch Kunst

Die Regisseure feiern sich für dieses Unterfangen: dafür, dass sie unbekannte Individuen zum Objekt ihrer Kunst machen und dass sie diese Kunst wiederum allen zugänglich machen, gewissermaßen die Mauern des Museums sprengen und die Dörfer, die sie abklappern, zu Orten der Kunst erklären. Die personelle Übereinkunft zwischen Gegenstand und Publikum hat auf den ersten Blick etwas sehr Demokratisches: Kunst über alle, Kunst für alle. Dabei schwingt immer eine Romantisierung dieser seltsamen und herablassenden Konstruktion des „kleinen Mannes“ mit. „Dörfer, einfache Landschaften“ wolle sie besuchen, sagt Varda zu Beginn, ohne zu erklären, was „einfache Landschaften“ sind; der Verdacht liegt jedenfalls nahe, dass sie „einfache Landschaften“ von einfachen Menschen bewohnt wähnt. „Sag mal, was habt ihr für Hobbys in der Fabrik? Spielst du Fußball?“, fragt sie unverhohlen einen Arbeiter, der kurzerhand zum Sprecher der Spezies der Fabrikarbeiter auserkoren wird. Im Presseheft erklärt Varda: „Industriegelände sind wunderschön. Und die Menschen, die dort arbeiten, haben ein gutes Herz.“

Augenblicke mag Kunst präsentieren, die jeden zum Gegenstand haben könnte und für jeden gemacht ist – zumindest: auf die jeder stoßen könnte. Aber es ist zweifelsohne keine Kunst, an der sich jeder beteiligen kann, und darin verfehlt der Film sowohl seinen demokratischen als auch seinen dokumentarischen Anspruch. Denn Augenblicke dokumentiert nicht das Leben von Menschen, sondern allein, wie Varda und JR dieses Leben herrichten, wie sie es in Szene setzen für ihre Fotos, für die Plakate, aus denen die Fotos entstehen – und zuletzt für den Film, der aus der ganzen Aktion entsteht. Es ist ein zutiefst selbstbezogener Film, in dem es allein um ihr Schaffen geht. Die Menschen auf ihrer Reise verkommen zu Material, das in der eigenen Darstellung völlig fremdbestimmt bleibt. Wo auch immer Varda und JR mit ihrem mobilen Fotoautomaten Halt machen, immer hagelt es Anweisungen: ein Baguette halten, nicht so weit nach oben gucken, die Arme in die Höhe strecken.
Das Ausgeliefertsein des Abgebildeten

Die Tatsache, dass JR nie seine Sonnenbrille ablegt, ärgert Varda. Der Mikrostreit wird immer wieder entfacht, liefert der Beziehung zwischen Varda und JR mit verlässlicher Regelmäßigkeit liebevolle Ruppigkeit. Vor allem aber liefert er einen mit Vergnügen ausgereizten Bezug zu Jean-Luc Godard, von dem es heißt, für Varda habe er kurz seine Sonnenbrille abgelegt. Ganz verloren in seinen großmäulerischen Vergleichen, scheint Augenblicke eine ganz andere Dynamik nicht einmal zu bemerken: Während JR seine eigene Abbildung pingelig kontrolliert und nicht nur Varda, sondern auch dem Zuschauer seinen Blick verweigert, während er sich also verhüllt, enthüllt er die Abgebildeten in einem Maß, das immer wieder über das Erwartete, das Vereinbarte hinausgeht. Bezeichnend ist der Fall dieser Kellnerin, die einem Foto zustimmt, dann aber sehr überrascht ist von der Größe des Plakats, das an die Mauer geklebt wird, und sich völlig überwältigt sieht von dem Umgang mit ihrem eigenen Bild; davon, dass ihre Abbildung unzählige Male abfotografiert wird, dass sie im Internet zirkuliert.

Varda und JR zensieren diese Sequenz nicht, nehmen sie auch nicht zum Anlass, über die Verantwortung des Abbildenden für den Abgebildeten nachzudenken, über den Umgang mit Bildern in unserem Zeitalter. Der Gestus des Künstlers ist hier der des großzügigen Fürsten, der nach Lust und Laune seine Subjekte beschenkt und ihnen in dieser Willkür zu verstehen gibt, dass sie das, was er ihnen gibt, nicht einfordern dürfen. Varda und JR inszenieren sich regelrecht als nobles Künstlerpaar, das der tristen Provinz ein wenig Zauber beschert, ein Zauber, für den die Abgebildeten dankbar zu sein haben. „Glaubst du, du wirst der Star des Dorfes?“, fragt JR einen abgebildeten Landwirt, als würde der nach nichts anderem trachten und Ruhm nur durch äußere Einwirkung erlangen können.
Die Macht des Ignorierens

In einem der ersten Dörfer, die sie besuchen, stoßen Varda und JR auf ehemalige Bergleute. Kurz dürfen diese vor der Kamera von den Arbeitsbedingungen im Bergbau erzählen, von den Blutergüssen im Rücken, durch Kohlestücke, die sich immer wieder von der Decke ablösten. Später besuchen Varda und JR eine Chemiefabrik. Ein Mitarbeiter erklärt, seine Arbeit bestehe darin, die Zahl der Arbeitsunfälle gering zu halten. Wieder geht es um Körper, in die sich schwere Arbeit einbrennt, geht es um Produktionsverhältnisse. Varda und JR verweigern sich aber nicht nur diesem Thema, sondern porträtieren etwas, das es vermutlich gar nicht gibt: eine Belegschaft in trauter Einheit, freundlich angewiesen, auf dem Gruppenfoto die Arme in die Höhe zu strecken. Das Ergebnis ist nicht von einer PR-Aktion des Standortes zu unterscheiden. So wie Augenblicke insgesamt nicht von einer PR-Aktion für seine Macher zu unterscheiden ist.
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