Unsane: Ausgeliefert – Kritik
Neu auf MUBI: Die Last des Kleingedruckten. Steven Soderberghs Unsane flirtet mit Sanatoriums-Horror und Kapitalismuskritik, ist aber vor allem ein gut gezielter Hüftschuss von einem Thriller.

Ein iPhone deformiert den Business-Distrikt von Pittsburgh. Die Hochhäuser verziehen sich im Weitwinkel, winden sich über der kleinen Parkbank, die Sawyer Valentini (Claire Foy) für ihr Lunch ausgewählt hat. Im Büro schimmert das eklige, nikotingefärbte Licht in die verzogenen Einstellungen rein. Ein Videolook, der an David Lynchs Inland Empire (2006) oder Terry Gilliams Brazil (1984) erinnern könnte – wäre er nicht so verdammt trist. In der Tristesse von Pennsylvanias Geschäftsdistrikt lauert nämlich bereits der kleine Genrefilm, den Soderbergh hier nahezu im Alleingang vollzieht. Denn Unsane ist nach der Serie The Knick ein weiteres Quasi-Soloprojekt von Soderbergh. Alle Kreativposten, abgesehen vom Drehbuch, vereint er auf sich. Unter Pseudonymen übernimmt Soderbergh Regie, Kamera und Schnitt. Die restlichen Namen schießen im Kleingedruckten des Abspanns in wenigen Sekunden vorbei.
Ein Raum diffusen Schreckens

Und wer liest schon das Kleingedruckte? Sawyer jedenfalls verzichtet drauf. Sie möchte nur die ihre Therapie fortsetzen, jene Zeit verarbeiten, in der sie ein Stalking-Opfer war, einen Neuanfang in Pennsylvania schaffen. Also unterzeichnet sie das Dokument, das die Therapeutin eine reine Formalie nennt. Damit endet die Sitzung und Sawyer wird in den nächsten Raum geführt. Ein Pfleger nimmt ihr das Telefon, eine Krankenschwester ihre Tasche ab. Sie muss sich ausziehen. Sawyer wird es zu seltsam, sie will das Therapiezentrum verlassen. Doch die Tür ist bereits abgeschlossen, die Einwilligung bereits unterschrieben. Sawyer hat sich freiwillig gegen ihren Willen in eine psychiatrische Klinik eingewiesen. Hier wird sie mit ihrer eigenen geistigen Fragilität konfrontiert, die bald in Gestalt ihres Stalkers David (Joshua Leonard als wunderbar gruseliges Durchschnittsgesicht mit rapist glasses) die Klinik heimsuchen wird.
All das wird, obwohl sich die Handlung in die Anstalt verlegt, noch eingefasst von der rätselhaften Businesswelt, die immer wieder aus der Peripherie in das Geschehen einbricht – am prominentesten in Gestalt von Matt Damon (ohnehin einer von Hollywoods beliebtesten Überraschungsgästen), der in einer Rückblende als privater Sicherheitsberater einen atemlos hysterischen Sicherheitsplan für das Stalking-Opfer aufstellt. Das Smartphone ist der Feind, Facebook tabu, die Garage eine Todesfalle, und eine Schusswaffe der wohl beste Schutz – steht auch alles in der eigenen Sicherheitsbibel, die Damon auf den Tisch knallt. Titel: „The Gift of Fear“. Einen ähnlichen Auftritt hat ein Anwalt, der kurz die Rechte der eingesperrten Protagonistin wie eine Anrufbeantworter-Ansage aufsagt und, ohne eine Antwort abzuwarten, wieder auflegt. Zu guter Letzt ist die Klinik selbst eine private Institution, die sich hauptsächlich über die Anzahl der Insassen und deren Krankenversicherungszahlungen finanziert. Bevor sich aber zu deutlich die Lesart eines kapitalismus- oder zumindest privatisierungskritischen Statements durchsetzt, rückt diese Welt, ähnlich wie viele Figuren im Vordergrund, zurück in den Raum des diffusen und absurden Schreckens.
Zwischen Selbstverteidigung und Geisteskrankheit

Denn im Herzen bleibt Unsane ein gut gezielter Hüftschuss von einem Thriller. Scheinbar spontan und doch irgendwie verkopft und streng konzipiert, spielt Soderberghs Film mit der Urangst der Freiheitsberaubung, der Angst, nicht mehr über den eigenen Körper verfügen zu können. Sawyer wird gezwungen, Pillen zu nehmen, an das Bett gebunden, wieder und wieder mit Beruhigungsmitteln vollgepumpt und, als das alles nicht mehr ausreicht, in Isolationshaft gesperrt. Soderbergh macht sich immer wieder ein Vergnügen daraus, die Sanatoriums-Horror-Codes durcheinander zu bringen. So holt eine Mitinsassin eine selbstgebaute Klinge unter ihrem Kleid hervor, nachdem sie bereits einen blutigen Tampon auf Sawyer geworfen hat. Bevor sie ihr das improvisierte Messer unter die Nase halten kann, winkt Sawyer aber schon ab. Die Nummer, so eindrucksvoll sie auch aufgezogen wird, zieht bei ihr nicht.
„Unsane“ ist kein gebräuchliches Wort im Englischen, offenbart sich aber schnell als ziemlich adäquate Beschreibung von Sawyers Verhalten. So beteuert sie jederzeit, nicht verrückt zu sein, und kann kaum um die Ecke blicken, ohne das Gesicht ihres Stalkers zu sehen oder in eine gewalttätige Konfrontation mit den anderen Insassen zu geraten. Der Film atmet diese Ambivalenz eine ganze Weile. Denn Sawyer ist trotz heftiger Opiat-Dosierung alles andere als wehrlos. Zu ihrer immer kurz vor der Eruption stehenden Gewaltbereitschaft gesellt sich die außergewöhnliche Fähigkeit, aus der scheinbaren Ohnmacht eine Situation oder eben ihr Gegenüber zu kontrollieren. Ein Talent, das Soderbergh seiner Protagonistin wohl auch auf den Leib geschrieben hat, um aus der kafkaesken Realität der privatwirtschaftlichen Zwänge der Anstalt bis in die Tiefen des Horrorfilms zu führen. Ein Wechsel, der auch reziprok wunderbar funktioniert. Die Grenze zwischen Selbstverteidigung und Sawyers Absturz in die Geisteskrankheit scheint nie endgültig festgelegt, bleibt dabei aber ebenso bindend wie das Kleingedruckte eines Vertrags.
Den Film kann man gerade bei MUBI streamen.
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