Unruh – Kritik
Klassenkampf in der Uhrenfabrik: Cyril Schäublin unternimmt eine Reise in das Schweizer Jura der 1870er Jahre und trifft dort auf Anarchist Piotr Kropotkin. Unruh versteckt die historische Brisanz im Beiläufigen und hat Close-ups vor allem für Uhrengehäuse übrig.

Bereits der Titel dieses Schweizer Kleinods, das man wohl am ehesten als sozialkritischen Historienfilm einordnen könnte, führt auf falsche Fährten. Denn die titelgebende Unruh meint kein lautes Aufbegehren, sondern ein feines Rädchen im Schwingsystem des Uhrengehäuses, verantwortlich für die Gangregelung von Taschen- und Armbanduhren. Wem das schon zu viel Theorie über die tickenden Zeitanzeiger ist, der könnte mit Unruh etwas zu kämpfen haben. Denn Cyril Schäublin, selbst Nachfahr einer Uhrmacherfamilie, arbeitet das Uhrenhandwerk aufs Präziseste in Handlung und Bildgeschehen seines Films rund um die Machenschaften einer Uhrenfabrik im Jahre 1877 ein.
Keine Gefahr der Eskalation

Dabei geht es in Schäublins zweitem Langfilm vordergründig vor allem um eines: den Anarchismus. Protagonist ist der russische Kartograf Pyotr Kropotkin (Alexei Evstratov), einer der bedeutendsten Theoretiker des kommunistischen Anarchismus. Spielort ist das Schweizer Juragebiet, das in den 1870er Jahren als ideologisches Zentrum des europäischen Anarchismus gilt. Diese Rahmenhandlung, in der Kropotkin ein kleines Schweizer Tal aufmischt, in dem sich vorsichtiger Widerstand gegen die führende Uhrenindustrie regt, nutzt Schäublin nun nicht für die explosive Inszenierung eines Klassenkampfs in den Nachwehen der europäischen Industrialisierung. Vielmehr besteht Unruh vorwiegend aus ruhig konstruierten Tableaus und fußt auf durchdringender Nüchternheit.

Die historische Brisanz seines Plots versteckt Schäublin immer in der Beiläufigkeit und überlässt es so dem Publikum, die politischen Nuancen seiner Geschichte zu ergründen. Sei es die fristlose Kündigung von Arbeiterinnen, weil sie als Mitglieder der anarchistischen Vereinigung entlarvt werden oder aber die Weigerung der Uhrenmacher*innen, mit ihren Machwerken das Militär zu unterstützen. All diese Momente setzt Schäublin inszenatorisch nicht vom Rest der Handlung ab, sondern situiert sie willkürlich zwischen dem idyllischen Dorfgeschehen. Die Plot Points, die sich zur Emotionalisierung eignen, sind in Unruh höfliche Gegenüberstellungen, die nie Gefahr laufen, zu eskalieren.
Achsen und Schwingsysteme

In der Inszenierung menschlicher Interaktion werden Close-ups stets gekonnt umschifft, denn diese sind dem Uhrwerk vorbehalten. Liebevoll zeigt Unruh wieder und wieder in langanhaltenden Nahaufnahmen die Uhrengehäuse und die penible Handarbeit der Uhrenmacher*innen an Federn, Achsen und Schwingsystemen. So werden die Uhren zu den heimlichen Hauptfiguren des Geschehens. Die Menschen hingegen und ihr Kampf um den Anarchismus sind nicht selten an den Rändern des Bildes positioniert, manchmal fast gänzlich abgeschnitten. Der Fokus der Kamera liegt in der reduzierten Beobachtung des Dorfalltags in Totalen. Und dieser Alltag beinhaltet eben nicht nur Gespräche über einen möglichen Systemsturz, sondern auch mal das Vorbeitreiben einer Kuh oder eine Debatte über die Sinnhaftigkeit des Weckers.

Ähnlich wie beim Betrachten des Uhrwerks, das sich erst mit einem Blick hinter das Zifferblatt ergründen lässt, ist für Schäublins Film größtmögliche Aufmerksamkeit für das weniger Offensichtliche gefordert. Die einzelnen Figuren hingegen sind so flüchtig gezeichnet, dass gar nicht die Möglichkeit besteht, sie zu Sympathieträgern oder Gegenteiligem zu machen. Einzig Kropotkin und die in der Uhrenfabrik angestellte Josephine Gräbli (Clara Gostynski) erfreuen sich leicht erhöhter Präsenz und lassen sogar eine aufkeimende Romanze erahnen. Anstelle eines romantischen Dialogs in trauter Zweisamkeit wird dann aber doch vor allem über die Mechanik im Uhrwerk gesprochen und gemeinsam die Wegzeit gemessen. Eine Form des Flirts, die in Schäublins Welt kaum überrascht.
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