Ein Leben – Kritik
Formvollendet und lyrisch: Ein Leben lagert den Plot von Guy de Maupassants Roman in Andeutungen aus – dafür rückt der Film Geste und Blicke, das Rauschen des Windes in den Blättern und die Nachtluft am Fluss in den Fokus.

Auf den ersten Blick scheinen in Ein Leben (Une vie) alle Elemente an Ort und Stelle, um die jüngste filmische Adaption von Guy de Maupassants Roman von 1883 zu einem sicheren period piece zu machen. Zunächst eine weitgehend originalgetreu aus der Vorlage übernommene, gattungsgemäß zwar eher unspektakuläre, aber verlässliche Handlung: Eine Tochter französischen Landadels erleidet im Frankreich des 19. Jahrhunderts Enttäuschung um Enttäuschung durch die Männer in ihrem Leben, sei es der Geliebte, der sich schnell als egoistischer und notorisch untreuer Ehemann erweist, sei es der Sohn, der ihr auch noch im Erwachsenenalter aus der Ferne seines dubiosen Off-Screen-Lebens auf der Erbschaftstasche liegt. Dazu erlesene Kostüme, malerische Naturkulissen der Normandie und eine so große wie kleine Performance von Judith Chemla als Titelheldin Jeanne, deren Schicksal nicht mit dankbaren Gelegenheiten zu stillem Leiden und melancholischen Blicken aus verregneten Fenstern geizt. Schließlich noch eine bewährt intime Engführung der Kamera, unterstützt von der Quasi-Quadratur des lose anachronistischen 1:1.33-Bildformats – anrühren, fertig. Die Geschichte von Ein Leben könnte hier bereits auserzählt sein.
Mut zur Lücke

Zum Glück wollen Regisseur Stéphane Brizé und Cutterin Anne Klotz gleichzeitig weniger und mehr. Indem sie den größten Teil des ohnehin dünnen Plots fast ausschließlich in Andeutung und Implikation auslagern, kaschieren sie nicht nur ein wenig dessen Berechenbarkeit, sondern rücken damit zugleich all die kleinen Gesten und Blicke, das Rauschen des Windes in den Blättern und die Nachtluft am Fluss in den Fokus, die es sonst nur zum narrativen Kolorit gebracht hätten. Radikal elliptisch spart Ein Leben ein und aus, wo es nur geht, und reiht geradezu pointilistisch klein an kleinst, Vignette an Detail. Dazu lässt er auch noch die bereits aus dem Blickfeld verdrängten, aber trotz allem vergleichsweise geradlinigen Wege der Narration von Anfang an mit einer Vielzahl von Erinnerungs-Flashbacks und zunehmend schwer konkretisierbaren Zeitsprüngen überwuchern. Wo andere Filmen die Grenze zwischen Hauptnarration und assoziativem Einschub gerne einmal lustvoll verwischen, hat sie hier kaum einmal wirklich bestanden. Als Resultat all dessen fühlt sich Ein Leben unter den Literaturverfilmungen so auch weniger wie Prosa denn wie Poesie mit doppeltem Zeilenabstand an. Gerade ohne Kenntnis des Romans mag das zuweilen irritierend, wenn nicht gar übertrieben lapidar bis unfreiwillig komisch wirken, etwa wenn der Tod eines Elternteils gerade einmal einen harten Schnitt lang Zeit bekommt. Wer sich jedoch auf die eigentümliche, eklektische Raffung von Raum, Zeit und Kausalität in Ein Leben einlässt, wird mit einer Dichte und emotionalen Greifbarkeit der Momenterfahrung belohnt, die ihresgleichen sucht.
Film im Selbstgespräch

Damit lässt es Ein Leben jedoch nicht bewenden, sondern verstärkt den Effekt seiner virtuosen Elliptik noch zusätzlich durch eine schleichende, stets subtile Entmischung und Aufspaltung der Bild- und Tonebene, durch die sich die einzeln aneinandergereihten Fragmente schließlich sogar ineinanderschieben und einander überlagern. In solch wahrhaft impressionistische Fahrwasser führt Ein Leben dabei besonders ein Stilmittel, das an sich zwar keineswegs neu ist, jedoch kaum einmal eine derart gekonnte Anwendung erfährt: Neben dem klassischen, vor allem in Literaturadaptionen nicht weiter aufsehenerregenden Voice-over finden sich hier immer wieder Momente, in denen sich ein anderes Bild über eine gegenwärtig stattfindende Dialogszene schiebt – die Erinnerung bemächtigt sich des Hier und Jetzts, das innere Auge schweift ab. Dieses Beispiel mag vielleicht allzu subtil erscheinen, bewirkt aber in Verbindung mit zahlreichen ähnlichen Verschiebungen und Ineinanderschichtungen einen auf stille Weise durchaus eindrucksvollen Effekt: Die Grundkomponenten der Filmform scheinen gewissermaßen in und durch Jeanne mit sich selbst ins Gespräch zu kommen, und das auf eine Weise, die wohl in jedem Film nur als aufregend bezeichnet werden könnte – erst recht in einem, dessen Romanvorlage im Untertitel des französischen Originals einst nicht mehr versprach als L’Humble Vérité – die schlichte Wahrheit.
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