Tscherwonez – Kritik
Der sowjetische Matrose Dimitri geht in Hamburg von Bord. Jede Station seiner Flucht ist in Gábor Altorjays Schwarzweißfilm anders koloriert. Mit lakonischer Absurdität erzählt Tscherwonez (1982) von der Suche nach Oasen im Kulturkampf des Kalten Krieges.

Tscherwonez sind russische Goldmünzen, eine Handvoll davon hat der sowjetische Matrose Dimitri (Tom Dokoupil) bei seinem ersten Landgang im Westen in der Tasche. Die am Schiff ertönenden Warnungen vor der Prostitution sind auch die vor den Verlockungen des Kapitalismus, denen Dimitri und seine Kameraden ausgesetzt sind, sowie sie in Hamburg von Bord gehen. Da wirbt ein Zigarettenplakat wenig subtil mit „Go West!“, und im klassizistischen Tempel „Burger King“ kommt man dank der Riesenburger dem Erstickungstod nahe. Der Stadtbummel und der Rest des Films werden von der Band The Wirtschaftswunder launig mit Musik (oder, wie es im Vorspann heißt, „Musik und Muzak“) untermalt, mal deutsch, mal russisch, immer grell, verzerrt und aufgeregt. Auf der Toilette des Fastfood-Restaurants entflieht Dimitri, offenbar lang geplant, seinen Landsleuten.

Grund und Ziel des Ausbruchs werden nicht sofort klar, wie wir rätselt auch ein Haufen Interessenvertreter: Da sind die Landsleute und Kollegen von der Marine, zwei blonde deutsche Beamte in Zivil (mit Superkräften?), deren wichtigstes Utensil ihr Überstundenbuch ist, und ein Journalist. Eine Radiostimme klärt uns über Fortschritte und Spekulationen im Fall Dimitri auf, und alle Beteiligten schaukeln sich in der Politisierung der Flucht in die Höhe. Denn ein ehemaliger KZ-Arzt wurde in einem Fahrstuhl ermordet, Dimitri wird verdächtigt.
Gestaltungswille und Verwirrung

Dabei möchte er eigentlich nur zu seinem Bruder, der in Hamburg leben soll. Abseits des Systemwettstreits hofft er auf etwas Unterstützung bei der Suche, auf ein bisschen Nächstenliebe und naive Freundlichkeit, wie er sie selbst ausstrahlt. Von Zeit zu Zeit begegnen ihm diese Dinge auch, aber die Politisierung hält über verschiedenste Wege Einzug. So fordert die Amerikanerin Olivia (Sheryl Sutton) nach einer Episode eskapistischen, vermeintlich selbstgenügsamen Musizierens und anschließendem Sex einen Tscherwonez von ihm, schließlich sei man hier nicht im Kommunismus. Der Vietnamese Hoang hilft ihm bei der Suche, gerät dadurch aber in Verdacht, und so landet eine Brandbombe in seinem Ausländerwohnheim. In Gesprächsfetzen ist von Dominotheorie und Großmächten die Rede, und aus jedem dritten Bild spricht ein übermächtiger Überwachungsstaat.

Das klingt nun nach viel Handlung, aber oftmals haben wir es eher mit wirren Versatzstücken und Szenen zu tun, die mehr für sich selbst als unter einem großen Konzept stehen. Vieles scheint seinen Weg in den Film gefunden zu haben, weil die Herstellung Spaß gemacht hat; Filmzitate, etwas Provokation und Gesangseinlagen fühlen sich danach an. Die Dialoge sind in allen möglichen Dialekten und Akzenten bis an die Grenze zur Lustlosigkeit vorgetragen, doch das handwerkliche Können in der lichtverspielten Kameraarbeit und dem effektvollen Schnitt machen deutlich: Hinter der lakonischen Absurdität steckt mehr Gestaltungswille als Verwirrung. So auch bei der Entscheidung, fast jede Filmrolle des Schwarz-Weiß-Films in einer anderen Farbe einzufärben und so jeder Station von Dimitris nächtlichem Irren eine höchsteigene Tonalität zu verleihen.
Oasen im Kulturkampf

Wie sein Protagonist sucht der Film in der hochpolitisierten Zeit des Kalten Krieges nach Oasen des Daseins abseits von einem Kulturkampf, in dem jede Seite gerade das pflegt, was von der anderen unterscheidet. Nicht nur das Sujet der Flucht wird Gábor Altorjay auch in seinem darauffolgenden Film Pankow ’95 (1983) aufgreifen. Überwachungsstaatliche Institutionen, Denkverbote, prekäre Solidarität und ebensolche Oasen sind Themen, die hier wie dort vor dem Hintergrund des Kalten Krieges betrachtet werden. Ob aber jemand Lenin oder nicht eher Helmut Schmidt und Nixon an der Wand hängen hat, interessiert Altorjay dabei weniger.
Die Suche führt Dimitri und seine Verfolger unter anderem ins Hamburger Salambo, das Theater von René Durand (der sich selbst spielt), der etwas weltmännischen Rokoko-Flair in seine Pornospelunke zu bringen versucht. Hier finden fast alle Figuren zwar nicht, was oder wen sie suchen, aber vielleicht ein kurzes, chaotisches Glück bei einem Wodka.
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