Trains – Kritik

Teils recht überzeugend zeigt Maciej J. Drygas‘ Trains, wie Zivilisation in Barbarei kippt. In einigen entscheidenden Passagen vergisst der kommentarlose Eisenbahn-Kompilationsfilm allerdings, dass Bilder nicht für sich stehen; sondern lesbar gemacht werden müssen.

Erste Erkenntnis: Der Name Eisenbahn kommt nicht von ungefähr. In einer Fertigungshalle montieren Männer Metalle. Unter Klirren und Quietschen schwingen sie ihr Werkzeug, arretieren lockere Teile, pressen und schleifen und hämmern. An Seilen hängt das eiserne Ungetüm noch, bald wird es auf Schienen hinabgelassen. Die Räder werden befestigt, ein Waggon angekoppelt (hierzu wird eine andere, kleinere Lok benötigt). Kurz darauf ertönt das charakteristische Tuten der Dampflok, die sich nun langsam in Bewegung setzt und mit ihr Maciej J. Drygas‘ Film. Innerhalb von nur 80 Minuten rollt Trains durch beachtliche Mengen Archivmaterial hindurch und passiert dabei die dunklen Stationen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Naturgemäß bleibt bei einem solchen Tempo einiges auf der Strecke.

Schon allein, weil das Thema filmisch so viel hergibt. Der Zug und das Kino, das war von Anfang an eine symbiotische Beziehung (man denke nur an den Lumière-Film L’Arrivée d’un train au gare de La Ciotat von 1896). Durch die Verbindung von Technik, Bewegung und Attraktion verkörperten beide Erfindungen das Ideal einer maschinellen Moderne, für die Fortschritt mit der Erschließung neuer (imaginärer) Welten einherging. Das Western-Genre ist voll von Zugfilmen. Und das Melodram hat den Bahnhof als Schauplatz tränenreicher Abschiede für seine Zwecke zu nutzen gewusst.

Es wird getanzt

Abschiede und Ankünfte bekommt man in Trains eine Menge geboten. Der Film setzt in den 1910er-Jahren ein, also zu einer Zeit, in der die Menschen auf den Bahnsteigen noch Hüte trugen und mit Taschentüchern winkten. Die Bilder ähneln einander: einfahrende und abfahrende Züge, sich öffnende und sich schließende Fenster, lachende und weinende Passagiere. Drygas und sein Rechercheteam haben in dutzenden europäischen Archiven gegraben und dabei etwas zutage gefördert, was sich als Kollektiverfahrung des Zugreisens beschreiben ließe. Woher diese oder jene Szene stammt, bleibt unklar, es sei denn eine Beschriftung am Waggon verrät, dass man sich wohl in Polen befindet, obgleich man sich vor zwei Sekunden noch in Holland wähnte.

Abgesehen von sozialen Umgangsformen am Bahnsteig ist einiges über die bürgerlichen Vergnügungen während der Fahrt zu lernen: Es wird getanzt, musiziert, geschmaust und sehr viel aus dem Fenster geguckt. Die Kamera guckt mit. Trains gibt mehrere Antworten auf die Frage, wie man das Zugfahren filmen kann: aus dem Fenster heraus (mit Blick auf die Räder); vom Bahnsteig (statisch/schwenkend); vom Dach; per Flugzeug von oben; von einem anderen Zug aus, der neben dem gefilmten Zug herfährt; als Lokomotiven-POV mit Blick nach vorn (so wurden die ersten Kamerafahrten der Filmgeschichte bewerkstelligt).

Zügig in Richtung Weltkriege

Noch vor dem ersten Bild steht ein Kafka-Zitat. Drygas benutzt es als schmissiges Motto, das anzeigt, wohin die Reise geht: There is plenty of hope, an infinite amount of hope… but not for us. Einem Artikel Max Brods zufolge soll Kafka diese Worte tatsächlich so ähnlich in einem Gespräch, das „vom heutigen Europa und dem Verfall der Menschheit ausging“, gesagt haben. Vom Verfall der Menschheit scheint auch Drygas auszugehen, nur ist das Europa, auf das er rekurriert, eines, das Kafkas Zeitgenossen noch bevorstand.

Trains lässt die harmlosen Reisenden in Zivil früh hinter sich und steuert zügig auf die beiden Weltkriege zu. Plötzlich tragen die Menschen keine breitkrempigen Hüte mehr, sondern Uniform und proben den Einsatz von Gasmasken. Generäle mit Monokel studieren Landkarten und beraten sich. Als infrastrukturelle Neuerung kam der Eisenbahn eine zentrale strategische Rolle im Krieg zu: Transport von Truppen und Panzern an die Front, Rücktransport von Verwundeten und Verkrüppelten. Die Frauen zuhause befüllen Züge mit frischer Munition. Erstaunliches Mit- und Gegeneinander der Verkehrsmittel: Autos werden von Güterzügen entladen, ein feuernder Panzer auf Gleisen, ein Flugzeug eröffnet das Feuer auf einen fahrenden Zug (die Bomben, die sie später abwerfen, haben sie auf dem Schienenweg erhalten).

Herausgefalteter Tramp

Wie Zivilisation allmählich in Barbarei kippt, zeigt Trains streckenweise sehr überzeugend. Eine gelungene Sequenz weist darauf hin, dass auch das Kino hiervon nicht ausgenommen ist. Drei Ankünfte am Bahnhof: zweimal Chaplin – zuerst faltet er sich in seiner Figur des Tramps aus der Gepäckablage heraus (The Idle Class, 1921); dann nimmt er als gefeierter Filmstar ein Bad in der Menge. Schließlich Hitler, Schauspieler, Filmstar und (Großer) Diktator in Personalunion – von allen Ankünften ist seine am aufwändigsten inszeniert. In assoziativen Spielereien wie diesen erinnert Trains ein wenig an die Großstadtsinfonien Dziga Vertovs und Walter Ruttmanns, auch wenn die motivischen Verbindungen erwartbarer bleiben.

Über SS-Uniformen und Hitlergrüße landet Trains bald bei den Deportationszügen, die bis heute das kulturelle Gedächtnis der Shoah bestimmen. Es sind Bilder, die man allzu gut kennt, weil sie in unzähligen Reeducation- und Dokumentarfilmen verwendet werden. Drygas‘ Ansatz, das verwendete Material zu einer Gesamterfahrung der Hoffnungslosigkeit zu kompilieren, wird hier zunehmend problematisch, weil Bilder ausgemergelter Leichen in Viehwaggons (zumindest auch) für ihre Schockwirkung genutzt werden, während Kontextualisierung auf der Strecke bleibt.

Das Beste rausholen, auch wenn es gar nicht drin ist

Zum Beispiel zeigt er die affizierende Sequenz des in die Kamera blickenden Mädchens mit dem Schal, die seit ihrer Verwendung in Alain Resnais‘ Nacht und Nebel (1956) zur Ikone der visuellen Erinnerungskultur um die Shoah wurde. Aufgenommen wurde das Bild 1944 im „Durchgangslager“ Westerbork als Teil eines Propaganda-/Image-Films, den die Lagerleitung in Auftrag gegeben hatte. Erst in den 1990ern fand ein Historiker heraus, dass das Mädchen Settela Steinbach hieß und entgegen bisherigen Annahmen keine Jüdin, sondern Sintezza war. Über die Bedeutung des Westerborkfilms für die Erinnerungskultur sind Aufsätze und Monografien erschienen (jüngst etwa diese umfangreiche Studie); Harun Farocki hat einen sehr guten Film dazu gemacht (Aufschub, 2007), in dem er sich fragt, wie mit diesen hochgradig ambivalenten Bildern filmisch umgegangen werden kann (eine seine Antworten lautet: die Bilder stehen nicht für sich, sie müssen lesbar gemacht werden).

Dass sich Trains um diese Fragen nicht groß zu kümmern scheint, sondern technisch versiert recycelte Bilder zum effektvollen, aber auch großspurigen Porträt einer kollektiv-europäischen Erfahrung aufbläht, ist schade. Der Verzicht auf jeglichen Kommentar – und das muss nicht zwingend ein Voiceover sein; Bilder können sich auch gegenseitig kommentieren, man muss sie nur lassen – sorgt dafür, dass in Trains vieles nebeneinandersteht und (von Ausnahmen abgesehen) wenig zusammenwirkt. Das ist ärgerlich, gerade weil die Auswahl und Montage der Bilder aus über 40 Archiven eine beachtliche Leistung ist.

Das hyperrealistische Sounddesign, das jede im Film vollführte Handlung in Geräusch umsetzt und ihnen eine eigenartige Aura verleiht, zeugt außerdem von einer Archivethik, die dem Maßstab folgt: das Beste rausholen, zur Not auch dann, wenn das Rauszuholende (etwa der Ton im Stummfilm) gar nicht drin ist. Als eine Gruppe Soldaten sich wäscht, ist auf der Tonspur ein Plätschern zu hören, das mehr nach Gebirgsbach klingt und dadurch bei weitem nicht so immersiv wirkt wie beabsichtigt. Über die Deportationsszenen wird ein unheilvoll raunendes Echo gelegt, als wären die Bilder nicht aussagekräftig genug. Der elektronisch vor sich hin orgelnde Instrumental-Score entfaltet eine treibende Dynamik, die den unaufhaltsamen Lauf der Geschichte heraufbeschwören will. Als Studie zum „Verfall der Menschheit“ stellt Trains nicht immer die richtigen Weichen – kommt aber trotzdem irgendwie ans Ziel.

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