Top Girl oder La déformation professionnelle – Kritik
Das Bordell, in dem sich die Gesellschaft selbst betrachtet: Tatjana Turanskyj liefert Teil zwei ihrer Trilogie über Frauen und Arbeit.

Anmutig tapsen vier nackte Frauen durch den Wald, wenden behutsam die Äste von sich ab. Man wähnt sich kurz auf einer libertinen Landpartie, muss an Manets Frühstück im Grünen denken, doch die Geräusche einer naheliegenden Straße lösen flugs den Märchenzauber. Schnitt, zweite Szene: Catwoman (Julia Hummer) lehnt erschöpft an einem Fenster. Die müde Heldin hat ihren Auftrag erfüllt. Ein Mann liegt auf der Couch, versunken in postkoitalem Schlummern; die Kamera zeigt ihn nackt, verletzlich wie ein Kind, umschlungen von seinen eigenen Armen. Jacky legt die Catwoman-Maske ab und wird wieder zu Helena. Sie ist das Top Girl in Tatjanas Turanskyjs Film; man kann ihren Körper buchen und käuflich erwerben, für eine halbe Stunde, für „ganz normal GV und danach noch mit dir liegen“ oder für größer angelegte BDSM-Spiele. In Latex, Leder und Lack bestreitet Jacky Helenas Lebensunterhalt: eine Berliner Endzwanzigerin, klassisch, elegant, müde. Der Job zehrt.
Die Entzauberung der Sexualität

An Helena macht Top Girl – La déformation professionelle ein weibliches Prekariat der anderen Art sichtbar. Sie ist kein osteuropäisches Mädchen, das mafiös ins Land geschleust wurde und auf dem Straßenstrich den ersten Schritt auf deutschem Boden machte; auch keine selbstbewusste Hure, die ihre freiwillige Prostitution als emanzipatorischen Akt verstanden haben will. Helena ist in der Mitte, fernab von Zuhälterei, aber auch von sexueller Selbstermächtigung. So werden die gröbsten Klischees von Bord gehalten und die Geschichte in einem Umfeld entfaltet, das in seiner Neutralität Helena die Qualität eines girl next door verleiht und sie zum Typus macht. Denn Helena ist das Türschloss, durch das wir in die Welt schauen sollen; aus der Intimität der Zimmer heraus, in denen Helena fremde Wollust befriedigt, können wir die Gesellschaft lesen, so die These.

Und was wir sehen, ist vor allem eines: die Kommerzialisierung des Körpers und damit einhergehend eine vollständige Entzauberung der Sexualität. Zur Dienstleistung verkommen, wird sie in Top Girl banalisiert, kategorisiert, quantifiziert, mit Preisen versehen und in unsäglichem Beraterjargon erklärt. Nichts Neues unter der Sonne, sieht man davon ab, dass die schnieke Puffmama „weibliche Selbstoptimierung“ als postfeministische Emanzipation verkauft. Deutlich interessanter ist die Beschäftigung mit Helenas devoten Freiern. Die Männer, die Jacky buchen, stehen da, wo man gemeinhin die Siegerseite des Lebens wähnt: Sie sind in anspruchsvollen Stellen tätig, üben Autorität aus, an ihrem Ringfinger glitzert der Ehering. Bei Jacky aber legen sie mit der Kleidung Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung ab, fügen sich ihrem Willen (einen Willen, den sie ihr freilich zuvor gedichtet haben) und wollen „brave Mädchen“ und „kleine Fotzen“ genannt werden. Und da wimmern die braven Mädchen kläglich, rücklings und mit angewinkelten Armen, ergeben wie ein Säugling, vollständig zur Disposition der Domina. Top Girl entblößt sie – und zwar deutlich weniger behutsam als die Frauen –, führt sie aber nicht vor.
Der Wille zur Willenlosigkeit

Frauen, die sich im Liebesspiel bis zur Demütigung unterwerfen, wird oftmals paternalistisch unterstellt, damit lediglich die Machtverhältnisse der Gesellschaft zu reproduzieren. Wie aber verträgt sich diese These mit der Existenz devoter Männer? Fernab vom Terrain, auf das Top Girl überdeutlich hinauswollte, nämlich der strukturellen Gewalt von Prostitution, die nicht als Berufung betrieben wird, zeigt der Film eines: Es gibt einen freien Willen zur Willenlosigkeit; eine männliche Sehnsucht danach, anders mit den Geschlechterrollen umzugehen. Warum? Der Akzent, den Top Girl auf die berufliche Situation der gut situierten Freier setzt (deren Berufe wir alle kennen, nicht aber ihre Namen) suggeriert eine Ermattung im Beruf, einen Überdruss an Autorität, Verantwortung, Entscheidungskraft, der sich im Masodasein entlädt, in der totalen Pflegebedürftigkeit. Vielleicht ist es aber auch so etwas wie eine übergeschlechtliche Vernunft, die die Vielfalt der verschiedenen Rollen erkannt hat und vergnüglich mal mit der einen, mal mit der anderen spielt, anstatt nivellierende Gleichbehandlung zu fordern. Rollen sind eines der zentralen Themen im Film. Helena ist Sexarbeiterin und Darstellerin in gleichem Maße, der Kunde ein absolutistischer Regisseur und die erbrachte Dienstleistung eine Performance. Das Bordell ist eine Bühne, und ebenso ist es dieser Film, in den Tatjana Turanskyj kleine und große Performances eingeflochten hat und ihre Darsteller regelrecht deklamieren lässt, was den Erzählfluss bricht und Top Girl etwas angenehm Essayistisches verleiht.

Das Machtverhältnis Darstellerin-Regisseur, das sich durch Helenas Arbeit zieht, findet eine überraschende Umkehr in der grandiosen Schlussszene, in der sie für einen Kunden die groß angelegte Performance ihrer Kolleginnen orchestriert. Als Szenaristin ist Helena diesmal nicht die Entwürdigte, sondern die Entwürdigende; ein Aufstieg auf Kosten der anderen, die verzweifelte Geste einer Ertrinkenden, die sich an die Oberfläche zu hieven versucht, indem sie die anderen herunterdrückt. In der letzten Aufnahme, als die Beute erlegt ist, das Gesicht in die Erde gedrückt, steht Helena da wie eine absolute Herrscherin, unerbittlich, streng. Déformation professionnelle heißt der Film noch, und das ist hier wörtlich zu nehmen.
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