Time to Hunt – Kritik
Neu bei Netflix: Trister Cyberpunk mit Projektilen in Michael-Mann-Lautstärke. Die Welt in Time to Hunt hat ihren Kipppunkt überschritten, der Traum von einer anderen Welt wird nach und nach in Stücke geschossen.

Jun-seok zögert. Für einen kurzen Moment friert alles ein. Seine Freunde – wie er vermummt und bewaffnet – verharren neben ihm vor den verschlossenen Toren der illegalen Spielhalle. Allein der Schweiß, der ihnen aus den Skimasken ins Gesicht läuft, deutet an, dass die Welt sich noch dreht. Jun-seok (Lee Je-Hoon), Jang-ho (Ahn Jae-hong) und Ki-hoon (Choi Woo-sik) stehen im Auge des Sturms.
Wie Menschen zu leben, ein unerfüllbarer Traum

Ein Sturm, der nach Vorbild des gegenwärtigen koreanischen Ultra-Kapitalismus alles weggefegt hat, was nicht mit ausreichend Kapital geschützt war. Die Welt ist so grau, dass allein die grellsten Neonlichter sie noch beleuchten können. Time to Hunt ist trister Cyberpunk. Ein Korea der tiefen, verrotteten Häuserschluchten, von denen aus Leuchtreklamen auf Obdachlose, streunende Hunde, abgewrackte Luxusautos und verwaiste Ladenzeilen hinunterblicken. Die Landeswährung ist völlig entwertet. Allein der Dollar hat noch einen Wert. Die Unsumme an Won, die das Trio bei seinem letzten großen Coup, der Jun-seok für drei Jahre in den Knast brachte, ergaunert hat, ist von der Hyperinflation und den Lebenskosten völlig aufgebraucht. Die Jugendgeneration dieses Koreas hat die Hoffnung fahren lassen. „Wie Menschen zu leben“ ist ihr so schlichter wie unerfüllter Lebenstraum. An diejenigen, die mit Fackeln und Schildern praktisch ohne Pause für diesen Traum demonstrieren, glauben die drei schon lange nicht mehr.

Ihr einziges Fenster in eine andere Welt liegt hinter dem Stahltor der Spielhalle, an dessen Schloss Jun-seok seine Schrotflinte anlegt hat. Zweimal muss er sich den Schweiß aus den Augen wischen, bis er den Abzug durchdrückt und das erste, in Michael-Mann-Lautstärke detonierende Projektil abfeuert. Auf den ersten Schuss folgt ein trotz zittriger Hände, hektischer Manöver und panischer Flucht erfolgreicher Raub. Dann die lange Erleichterung, die das Trio in einen melancholischen Zustand des Fernwehs versetzt. Noch an ihre schäbige Heimatmetropole gebunden, träumen sie von der Ankunft des Schiffs, das sie an ihren Zufluchtsort bringen soll, an eine Küste, die auf ein smaragdfarbenes Meer blickt. Mit viel Pathos blicken die drei in die Zukunft und erinnern sich blödelnd an die Vergangenheit. Eine melodramatische Atempause, die ihrer Intensität dem Wissen verdankt, dass die Flucht bereits gescheitert ist. Nie macht der Film einen Hehl daraus, dass das erwartete Schiff nicht kommen wird und der tropische Strand eine utopische Fantasie ist. Die Welt hat ihren Kipppunkt überschritten. Sie zu verlassen ist die einzige, falsche Hoffnung, die noch bleibt. Die Freundschaft des Trios das letzte Refugium, das bereits weit über sein Verfallsdatum lebt.
Verzweiflung bis in die Set-Pieces

Das ist spätestens dann gekommen, als ein nicht weiter definierter Auftragskiller namens Han (Park Hae-soo) mit einem Anruf auf die Fersen der jungen Gauner gesetzt wird. Die über mehrere Tage ausgedehnte Verfolgung konfrontiert den sportlichen Antrieb des Jägers mit der absoluten Stümperhaftigkeit der Gejagten. Das Trio entlarvt sich über die eigenen Handyklingeltöne, flüchtet im Aufzug, verirrt sich im Parkhaus und fährt den eigenen Fluchtwagen zu Schrott. Der stereotype Abziehbild-Killer räumt ihnen dafür eine zweite und dritte Chance ein – er hat Gefallen an der Angst seiner Beute gefunden. Mit der für das koreanische Actionkino schon fast obligatorischen handwerklichen Finesse breitet Regisseur Yoon Sung-hyun die Verzweiflung auch in seinen Set-Pieces aus. Während das Trio mit zitternden Händen, tropfenden Schusswunden und der ständig wiederholten Lüge, die Flucht könne ihnen gelingen, durch die Ruinen Koreas flieht, wird der Traum von einer anderen Welt, sofern diese überhaupt zu erreichen ist, nach und nach in Stücke geschossen.

Der Sturm ist zurückgekehrt. Was er hinterlässt, ist eine Ruine, die nur dazu da ist, nach Strich und Faden missbraucht zu werden. In ihr leben diejenigen, die in den Ruinen ihrem Sadismus beim Räuber-und-Gendarm-Spielen frönen, als wären sie Kinder auf dem Schrottplatz. Die sadistische Freunde an diesem Spiel wird zur einzig denkbaren Möglichkeit, überhaupt in dieser Welt zu leben. Wer sie nicht teilt, ist schon ausgestorben.
Den Film man sich jetzt bei Netflix ansehen.
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