Time – Kritik

Ein Banküberfall, sechzig Jahre Gefängnis. Der Dokumentarfilm Time, der auf Amazon Prime zu sehen ist, verspricht einen intimen Blick auf das US-amerikanische Justizsystem. Und macht endloses Warten ohne lange Weilen erfahrbar.

Ein Film, der Time heißt, wird doch wohl kein Happy End haben. Die Zeit muss weiter ins Land gehen. Die Anrufe müssen ins Leere laufen. Die Anrufe beim Richter, der doch schon längst sein Urteil fällen wollte (eine Begnadigung, hofft Sibil Fox Richardson, hoffen wir alle). Hat er aber noch nicht, sagt die Sekretärin, also noch mehr: Zeit.

Zeit als Praxis

„Doing Time“ sagt man im Englischen auch für einen Aufenthalt im Gefängnis. Zeit als Praxis. Absitzen. Sibil, die sich auch Fox Rich nennt, sitzt mit ab. Macht Zeit. Jedes Silvester aufs Neue sagt sie sich: Dieses wird das Jahr sein, in dem er freikommt, in dem das harte Urteil revidiert wird. Sibils Mann Robert ist im Knast, schon zwanzig Jahre, und sechzig sollen es werden. Ein Banküberfall, fehlgeschlagen, Sibil hat im Wagen gesessen, wie bei Bonnie und Clyde (1967). Hat selbst zwölf Jahre bekommen, dreieinhalb davon abgesessen. Zieh mal sechs Jungs auf, aus dem Knast, dann ohne Vater, halte du mal an deiner Liebe und deiner geistigen Gesundheit inmitten dieser unverhältnismäßigen Verhältnisse fest, und dann kannst du mir erzählen, dass ich büßen soll für das, was ich getan habe. Das sagt Sibil einmal sinngemäß, gerichtet an eine imaginäre Vorwerfende, bei einem ihrer Inspirational Talks, bei denen sie einem bewegten Publikum von ihrem Kampf erzählt. Um Begnadigung, um Gerechtigkeit. Weniger kämpferisch die Anrufe beim Gericht: Vielen Dank, Madame, ja, da kann man nichts machen, einen schönen Tag Ihnen noch. Das ist das Jetzt.

Home-Video und Kino-Breitbild

Die Dekaden davor: Time in Homevideo-Aufnahmen, ein filmisches Familienalbum, ein Tagebuch des Wartens. Gemachte Zeit: Geburtstage der Jungs und all sowas. Gefilmt auch für Robert im Knast. Die zwanzig Jahre nicht als Ewigkeit, denn wie sollte sich eine solche Zeitspanne auch per Film erfahrbar machen lassen? Vielmehr kondensiert, ein Gefängnis aus Zeit, in dem alles verschwimmt, ein undatiertes Mischmasch aus Videoschnipseln, mit sechs Jungs, mal größer, mal kleiner, mit Sibil, dieser krassen Frau, die filmt und sich auch immer wieder selbst ins Bild holt.

Zwanzig Jahre später: Time im breiten Bild, in HD, in der Gegenwart. Sibil hält Vorträge, telefoniert, die sechs Jungs sind groß geworden, beginnen, wie gesagt, ihr Studium oder feiern ihren Abschluss. Bevor die Zwillinge 18 sind, will Sibil ihren Mann in Freiheit sehen.

Knast statt Kugelhagel

Freedom und Justus heißen diese Zwillinge, die Letztgeborenen, die keine andere Welt kennen als die des Wartens. Sie studieren schließlich Politik, ein älterer Sohn ist schon fertig mit dem Studium der Zahnmedizin. Lauter auf die Reise geschickte amerikanische Träume. An den habe sie immer geglaubt, sagt Sibil, das habe sie von ihrer Mutter geerbt. Auch damals, vor zwanzig Jahren. Aber dann kamen sie immer schlechter über die Runden. Fox Rich und Rob, ein Paar seit der Highschool, keine Bonnie, kein Clyde. Also kein Kugelhagel in Zeitlupe, sondern sechzig Jahre, ohne Chance auf Kaution, auf Strafnachlass, auf Bewährung. Keine Zukunft mehr machen, nur noch Zeit.

Die enge Vergangenheit der Video-Aufnahmen spendet der Gegenwart im breiten Bild keine Erinnerungen, die große Abwesenheit, das Zeitmachen, zieht sich durch alle filmischen Formen. Besuche gibt’s nur zweimal pro Monat, also auch zwischen Sibil und Robert viel Telefonieren: „Was machst du als Erstes, wenn du rauskommst?“ „Hmm ... Disney World?“ Lachen. Liebe per R-Gespräch, bis eine weitere Zeit um ist. „Thank you for your call.“ Viel war nicht gesagt.

Intimes Denken

Nicht zuletzt eine intime Perspektive auf so abstrakte Begriffe wie das Zeitalter der Masseninhaftierung und institutionellen Rassismus verspricht der Film. Das klingt nach Klappentext, aber genau so ist das eigentlich. Für Schicksale ist das Kino da. Für verbitterte Blicke, in die das Leben trotzig, aber immer wieder aufs Neue einzieht. Für das Material der Erinnerung. Für Haut und Knochen.

Dennoch wird auch viel gedacht in diesem Film. Sibils Mutter denkt: alles wie in der Sklaverei. Der weiße Mann sperrt dich ein, entscheidet selbst, wann er dich wieder rauslässt, vielleicht. (Sibils Mutter aber auch mit Zeigefinger: „Right don’t come to you doing wrong.“)

Und die Parallele zur Sklaverei führt zur Parallele im Widerstand. Die Bewegung des sogenannten Prison Abolitionism wird ja oft als Ruf nach sofortiger Freilassung aller Gefangenen missverstanden, dabei geht es erstmal um einen anderen Umgang mit Entscheidungen, mit Fehlern, mit Strafen. Nicht mehr diesen Wahnsinn: Raubüberfälle, auch schiefgegangene, gaben im Jahr 1999 zwischen fünf und 99 Jahren Haft. Nehmen wir mal 60, nehmen wir mal ein Leben.

Tenet im Kinderzimmer

Irgendwie glatt ist dieser Film, aber das ist gut so, es ist ja alles schlimm genug. Ein Gespräch zwischen Video-Aufnahmen und Filmbild in straighter Poesie, Schwarz-Weiß, mit Klaviermusik hinterlegt, später wird’s tragender. Das Happy End kommt ans Ende. „Louisiana State Penitentiary“ steht nur noch auf ein Gebäude im Bildhintergrund geschrieben, „Never Give Up“ aufs T-Shirt des Neu-Freien, die Umarmung bekommt eine Zeitlupe. Noch ein amerikanischer Traum. Und den wird man nicht kritisieren, hat ein Philosoph mal gesagt, nur weil er ein Traum ist. Seine ganze Kraft stammt schließlich von der Tatsache ab, dass er ein Traum ist. Ein Traum, der kein idealistischer Humbug, sondern materialistische Notwendigkeit ist, ergänzt Time.

Dieser Traum ist besser als die Gewalt der Moral. Das hättet ihr euch wohl zweimal überlegen sollen mit dem Banküberfall! Ein Filmbild gegen solche Weißheiten: die Video-Aufnahmen der Kinder, rückwärts abgespielt. Einer der Jungs hebt auf einmal vom Boden ab, springt nach hinten ins Leere, landet sicher auf dem Bett: Tenet im Kinderzimmer. Die Zeitreise als letzte Hoffnung eines hoffnungslosen Justizsystems.

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Kommentare


Ensoniq

Ich bin mir nicht wirklich sicher, ob ein bewaffneter Banküberfall und die anschließend folgende gesetzliche Strafe für so ein Verbrechen als "institutioneller Rassismus" abgetan werden kann. Die Aussage des Films ist mir zu naiv und selbstverliebt. Die Message suggeriert eine durchgängig ungerechte, rassistisch motiviert Strafe nach Willkür, was aber nicht der Fall ist. Das Paar Richardson hat im Gericht einen typischen US-Deal angeboten bekommen und diesen auch angenommen. Sibil Fox Richardson ist nach kurzer Zeit freigekommen, ein zusätzlich für ihren Mann hinzugezogener schwarzer (!) Anwalt hat das Paar dann aber um 15.000 Dollar abgezockt, samt falscher Ratschläge, die dazu geführt haben, dass der Bankräuber Richardson zu 60 Jahren "without parole" verknackt wurde, aber mittlerweile wieder auf freiem Fuß ist. Der Film, bzw dessen Aussage ist m.E. ähnlich absurd wie das 60 Jahre Urteil für Richardson. Das Verbrechen selbst, als Auslöser der fürchterlichen Situation wird jedoch geade einmal im Ansatz angekratzt, wenn man das überhaupt so bezeichnen kann. Es wird verharmlost, als verzeihbare Dummheit. Ein bewaffneter Raubüberfall auf eine Bank wird im Film als eine im Grunde normale Reaktion auf die Pleite des HipHop T-Shirt Ladens der Richards dargestellt, auch wenn Sibil Richardson die Tragik dieses Entschlusses bewusst ist. Dennoch: Bei solchen Verbiegungen - und das hat der Regisseur zu verantworten- wundere ich mich nicht weiter, dass der Rassist und Lügner Trump in dieser Woche noch mehr Stimmen erhalten hat als in 2016.






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