Allein in den Bergen von Yunnan – Kritik
Kinder, die keine Kinder sein dürfen. Dauer wird in Wang Bings neuem Film zum Gestaltungsmittel.

Wenn sich die Menschen in Wang Bings neuem Dokumentarfilm in ihren Zimmern aufhalten, wird die Leinwand von einer beinah alles verschlingenden Dunkelheit bestimmt. Die ersten Einstellungen zeigen drei junge Mädchen, von denen zwei wie Jungen aussehen. Während sich die beiden Jüngeren ihrem Spieltrieb hingeben und gegenseitig attackieren, versucht die Älteste Ordnung in dieses Chaos zu bringen. An den Wänden türmen sich Berge von Kartoffeln, ein offenes Feuer brennt in der Mitte des Zimmers, taucht nur Teile der kindlichen Gesichter in ein warmes Licht, während der restliche Raum im schwarzen Nirgendwo verschwindet.
Allein - In den Bergen von Yunnan (San Zimei – Three Sisters) zeigt Kinder, die viel arbeiten und ein bisschen leben. Die drei Schwestern, die zwischen vier und zehn Jahre alt sind, kommen aus einem Bergdorf in der chinesischen Provinz Yunnan. Sie leben in einer Welt ohne Erwachsene, keine Utopie ohne den Zugriff von Autoritäten, sondern ein weitgehend freudloses und einsames Dasein, in dem sich jeder auf geradezu autistische Weise mit sich selbst beschäftigt. Die Mutter ist seit langer Zeit verschwunden, der Vater arbeitet in einer mehrere hundert Kilometer entfernten Stadt. Lediglich Tante und Großvater, die einige Häuser weiterleben, kochen den Kindern ab und zu ein Mittagessen gegen Arbeitsleistungen.

Wang dreht schon seit einiger Zeit Dokumentarfilme – und mit Das Erdloch (The Ditch, 2010) auch schon einen Spielfilm – über gesellschaftliche Wunden seiner Heimat. Bereits mit seinem ersten dreiteiligen Projekt hat er, was die Laufzeit angeht, ein wahres Monstrum von einem Film gedreht. Über neun Stunden widmet er sich in West of the Tracks (Tie Xi Qu, 2003) dem Fabrikensterben in China. Dauer spielt auch in Allein in den Bergen von Yunnan, zu dem Wang gerade mit San Zimei – Alone einen zweiten Teil für ARTE dreht, eine wichtige Rolle. Der über den Zeitraum von einem halben Jahr gedrehte Film ist zwar „nur“ zweieinhalb Stunden lang, allerdings lässt Wang das Publikum jede Minute davon spüren.

Überspitzt formuliert könnte man sagen, Allein in den Bergen von Yunnan hätte mit denselben Informationen für den Zuschauer auch in einem Drittel der Zeit erzählt werden können. Doch um die reine Vermittlung von Informationen, wie sie sich die meisten Dokumentarfilme zur Aufgabe gemacht haben, geht es hier eben nicht. Vielmehr steht die Erfahrung von Dauer im Vordergrund. Das raue Klima, der monotone Alltag und das Fehlen von menschlicher Wärme, all das soll nicht nur registriert werden, sondern durch Bilder, die detailliert und ausführlich die Lebenswelt der Mädchen schildern, erlebt werden. Nacheinander werden die verschiedenen Arbeiten gezeigt: Das Sammeln von getrocknetem Dung, das Hüten einer Schafherde oder die Zubereitung von Schweinenahrung. Keine Interviews, die das Innenleben der Porträtierten nach außen stülpen, keine Musik, die einen emotionalen Zugang vereinfacht und auch kaum Dialoge erleichtern das Seherlebnis.

Das kann für den Zuschauer mitunter schon zur Herausforderung werden. Erst recht, wenn etwa nach einem Drittel des Films der Vater zu Besuch kommt, um die beiden jüngeren Schwestern mit sich zu nehmen. Plötzlich fokussiert der Film sich ganz auf die Älteste Ying, die allein auf den weiten Feldern und in der Dunkelheit ihres Lehmhauses zurückbleibt. Selbst die wenigen Szenen mit anderen Menschen zeigen, dass fast keine soziale Interaktion möglich scheint. Ob bei der Arbeit mit anderen Kindern – deren Name, Alter und Familienzugehörigkeit Wang kurz einblendet – oder auf dem so genannten Herbstfest, das Mädchen redet kaum mit jemandem.
Trotzdem wird Allein in den Bergen von Yunnan nie zum reinen Elendsdokument. Die Bilder sind stets von einer unaufdringlichen Schönheit durchsetzt, und gerade weil Wang sich so viel Zeit nimmt, versucht sein Film immer der Komplexität von Yings Situation gerecht zu werden. Etwa durch die malerische Landschaft, die im starken Kontrast zum harten Leben des Mädchens steht. Oder wie auch kurze Momente des Glücks möglich sind, wie etwa in der Schule, beim lautstarken Rezitieren eines Gedichts.

Wang dreht Filme darüber, was in seiner Heimat schiefgelaufen ist. Letztlich geht es auch in Allein in den Bergen von Yunnan um mehr als ein individuelles Schicksal. Denn neben dem von Armut und Isolation geprägten Leben des Mädchens erzählt der Film auch von einem Dorf, an dem die Industrialisierung vorübergezogen ist. Ein Ort, an dem nur sehr Alte und sehr Junge zurückbleiben, während die dazwischen in der Stadt ihr Glück suchen. Wang widmet sich den Vergessenen. Während alle vom wirtschaftlichen Aufschwung Chinas reden, zeigt er Menschen, die in Zeiten des Neokapitalismus auf der Strecke bleiben.
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