The Wolf House – Kritik

Horror in Stop-Motion: Im Modus des Märchens und mit Pappmaché bewaffnet nähert sich The Wolf House (La Casa Lobo) dem Trauma um die Sekte Colonia Dignidad.

Es beginnt mit Video-Bildern: Was erst noch aussieht wie Honigwerbung, ist ein paar Sekunden später schon Propaganda für ein deutsches „abgelegenes Refugium“ in Chile. Die „Colonia“ wird sie hier nur genannt, diese Gemeinschaft, die inmitten von Bergen und Tälern, in einer Idylle wie aus einem deutschen Nachkriegs-Heimatfilm, lebt und arbeitet, „der Gemeinschaft des Landes dient und singt“. Es werde da zwar eine „düstere Legende“ erzählt, es würden „schreckliche Gerüchte“ gestreut, aber das alles basiere lediglich auf Ignoranz. Die Versatzstücke deuten also zügig auf das reale Vorbild der Colonia Dignidad hin, jene Sekte, die 1961 vom deutschen Wehrmachtssanitäter Paul Schäfer gegründet wurde, in der bis zur Auflösung 1997 Kinder festgehalten, misshandelt und vergewaltigt wurden und die der Pinochet-Diktatur als Folterlager diente.

Ein deutscher Horror

Erst dann beginnt Joaquín Cociñas und Cristóbal Leóns La Casa Lobo so richtig, emanzipiert sich und bewegt sich fort von dieser heilen Welt der Video-Einführung. Das junge Mädchen Maria soll dafür bestraft werden, dass ihr drei Schweine entwischt sind, erfahren wir durch eine Texteinblendung. Eines nachts flieht sie und findet Unterschlupf in einem alten heruntergekommenen Haus im Wald, in der auch die Schweine einen Schutz gefunden haben. Schutz vor dem dort draußen lauernden Wolf, von dem wir durch Marias angsterfüllten Voice-over erfahren und dessen Jaulen wir immer wieder aus gefährlicher Nähe hören. La Casa Lobo übersetzt das Trauma der „Colonia“ und das Gefühl der Verfolgung also in eine Märchen-Situation, entwickelt hieraus eine spezielle metaphorische Kraft. Schließlich führt nicht nur eine direkte historische Linie vom Dritten Reich zur Colonia Dignidad, auch Grimms Märchen, die an Brutalität und Sadismus nie gespart haben, sind nach 1945 immer wieder als Vorboten des Nationalsozialismus interpretiert worden.

Zerfledderte, fragmentierte, unfertige Hülle

Allerdings wird man dem Film kaum gerecht, bespricht man ihn vorrangig anhand der Implikationen, die seine Geschichte mit sich bringt. La Casa Lobo lebt vor allem von der surreal-unheimlichen, kindlich-spukhaften und vor allem ziemlich grausam anmutenden Atmosphäre, die der Film entfaltet: Cociña und León benutzen durchweg das Mittel der Stop-Motion-Animation, wodurch ihre Figuren entweder als langsam wachsende Bemalung an den Wänden oder als sich ständig neu formende Pappmaché-Puppen ins Bild treten. Jeder Handgriff, jeder Pinselstrich und noch jedes fixierende Klebeband ist für den Bruchteil einer Sekunde zu erkennen. Eine Methode, die trotz der Ausstellung ihrer eigenen Funktionsweise den Zuschauer in die beklemmende Aura des Films zu hüllen vermag – vor allem weil die Regisseure voll und ganz auf die Wirkung kindlicher Ästhetik vertrauen.

Alles sieht aus wie von Kinderhand gemacht: Die Zeichnungen an den Wänden, die mal Fenster und Türen darstellen, mal ein Bücherschrank werden. Und auch die Figuren aus Pappmaché, Kunsthaar und alten Puppenteilen. Alles ein bisschen zusammengewürfelt, nicht ganz stimmig, aber ein Gesicht ist schon erkennbar, wie bei einem Kunstprojekt in der vierten Klasse. La Casa Lobo macht diese Handarbeit für sich brauchbar, zieht seine unheimliche Atmosphäre daraus und nutzt sie als Spiegel eines traumatischen Sektenlebens. Kein schon erkennbares Gesicht also, sondern ein lebloses Gesicht und ein toter Körper. Eine zerfledderte, fragmentierte, unfertige, raue Hülle. So starr, so regungslos, dass nur die Animation sie bewegen kann. So schwach, so entkräftet, dass sie den Halt eines Klebestreifens eben auch braucht, um nur den Arm zu heben.

Alles versenkender Bewegungsstrom

Irgendwann muss sich dann auch die erzählte Geschichte dieser Atmosphäre beugen. La Casa Lobo versenkt seine zu Beginn noch klaren Handlungsstränge in einem Strom an Bewegungen. Von klaren Schnitten, Trennungen und Aufteilungen nimmt der Film einen immer weiteren Abstand. Alles ist formbar, geht ineinander über, ist fluide, aber ohne darin jemals den Bezug zum Sektenleben aufzulösen. Feste Koordinaten eines Raumes verschwinden. Wände werden zur Leinwand für Gedanken und Geschichten. Ein Fenster sieht dabei für eine kurze Zeit wie ein Hakenkreuz aus. Überall sprießen Gegenstände aus dem Boden und bilden neue Räumlichkeiten. Körper setzen sich zusammen und zerfallen wieder. Maria fehlt ihre Hand, die erst vorsichtig an ihren Körperplatz kriechen muss und dabei langsam über den eigenen Innenschenkel fährt. Die Schweine kriegen Hände und Füße, hocken für ein paar Sekunden in doppeldeutig-devoter Pose auf dem Boden, ehe sie zu einem Jungen und Mädchen mit Namen Pedro und Ana werden. Und selbst der Wolf verwandelt sein Jaulen in eine beklemmend gütige Männerstimme, um mit Maria in Kontakt zu treten.

Bis man dann irgendwann nicht mehr weiß, ob man noch auf dem festen Boden der Geschichte steht oder vollständig in einer kindlichen Imagination schwebt, sich noch in einer heruntergekommenen cabin in the woods befindet oder schon in die traumatisierte Psyche Marias hineinblickt. Vermutlich all das auf einmal und immer zur gleichen Zeit: La Casa Lobo führt das Trauma vor – als eine niemals endende, immer wiederkehrende, nie ganz verschwindende Horrorvision.

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