The Whale – Kritik

VoD: Bei Charlies Fressattacken schwillt die Musik unheilvoll an. Brendan Fraser legt sich ins Zeug, uns seine übergewichtige Figur nahbar zu machen, doch Darren Aronofskys Film The Whale will uns bei ihrem Anblick auch schaudern lassen.

Das mittlere Fenster der Zoom-Konferenz bleibt dunkel. Seine Webcam sei immer noch defekt, behauptet der Literaturdozent Charlie und versichert seinen ihn auf dem Display umringenden Studierenden, sie verpassten nicht viel. Aber für kaum eine reale Zuschauerin von The Whale dürfte es hier noch ein Geheimnis zu lüften geben. Der Ruf von Brendan Frasers sagenhafter schauspielerischer Leistung in der Rolle des 300 Kilo schweren Protagonisten eilte dem deutschen Kinostart von Darren Aronofskys Film lange voraus, der Oscar im Februar erschien wie der verdiente Lohn eines lange Zeit sträflich Unterschätzten.

Von Anbeginn auf der anderen Seite

Erstmals zu sehen bekommen wir Charlie in der nächsten Szene, in der die massige Gestalt, verschwitzt und mit schütterem Haar, in ihrem schwach beleuchteten Apartment zu einem Schwulenporno onaniert und dabei vor Anstrengung einen Herzanfall bekommt. Die Szene setzt den Tonfall, in dem später im Film auch Charlies Fressattacken gezeigt werden. So sehr sich der ins Fatsuit gezwängte Brendan Fraser sonst ins Zeug legt, uns seine Figur nahbar zu machen, ihre Warmherzigkeit und Verletzlichkeit zu zeigen – und was er dafür allein mit seinen Augen und seiner Stimme bewerkstelligt, ist wirklich beeindruckend –, diese Szenen, in denen die Musik wie in einem Horrorfilm meist unheilvoll anschwillt, sollen uns ins Befremden und Unbehagen treiben, uns Grauen empfinden lassen vor dem Anblick der Selbstzurichtung von einem, der sich willentlich zu Tode frisst. Früh im Film misst ihm die Krankenschwester und einzige Freundin Liz (Hong Chau) den Blutdruck und nennt Werte, die jenseits dessen liegen, was ein Mensch überleben kann – Charlie ist von Anbeginn auf der anderen Seite.

Anders als in früheren Filmen, in denen er Figuren in die Selbstzerstörung begleitete (Black Swan, The Wrestler), nimmt Aronofsky sich stilistisch diesmal völlig zurück; The Whale ist ein verfilmtes Bühnenstück und verschleiert diese Herkunft keinen Moment. Was erstmal ebenso wenig ein Problem sein muss wie die Entscheidung, den einzigen Schauplatz, Charlies Apartment, ins 4:3-Format zu pferchen, um den Eindruck der Beengtheit noch zu verstärken. Der zugrunde liegende Stoff rechtfertigt eine solche Form, und wenn man sich wünschte, dass Aronofsky aus ihr ausbräche, um woanders hinzugelangen, dann liegt das an den Problemen des Stoffs selbst.

Wer ist Ahab?

The Whale ist also zum einen die Geschichte eines extrem übergewichtigen Mannes, der sich für sein Äußeres so sehr schämt, dass er sich von der Außenwelt abschottet. Zum anderen ist es die Geschichte eines Mannes, der einst seine Familie verließ, um mit seinem Geliebten zusammenzuziehen, nach dessen Suizid in Depressionen versank und vor seinem eigenen Ableben mit seiner Teenagertochter ins Reine kommen will, die er damals im Stich ließ. Die Verbindung beider Geschichten wirkt eher gesetzt als zwingend, und es ist eine nicht uninteressante Notiz zur Stoffgenese, dass Autor Samuel D. Hunter bekundete, auf die Idee mit der Fettleibigkeit erst relativ spät beim Schreiben gekommen zu sein.

Dass sich Charlies Trauer gerade in einer Essstörung manifestiert, spiegelt auf Plotebene zunächst den Umstand, dass sein verstorbener Freund sich vor seinem Suizid fast zu Tode hungerte. Vor allem aber dient sein Äußeres, der Titel verrät es schon, als Metapher; Herman Melvilles Roman Moby-Dick ist das Referenzwerk schlechthin in dem Film, in Gestalt eines Essays, den sich Charlie in Momenten der Todesnähe gerne vorlesen lässt, eine Reflexion über das tragische Verhältnis zwischen dem hasserfüllten Kapitän Ahab und dem gleichgültigen Wal und was es dem Verfasser über sein eigenes Leben verrät. Die Frage, wer der Verfasser und wer Ahab ist, ist gewissermaßen das Spannungsmoment des Plots, wenn auch recht früh zu erahnen.

Viele gewichtige Sätze

Als weiteres tragisches Element kommt religiöse Verstrickung hinzu. Gleich zu Beginn bei Charlies Herzanfall kommt ein junger Mann namens Thomas (Ty Simpkins) lebensrettend hereingeschneit und stellt sich als Missionar von „New Life“ vor, jener Sekte, der Charlies Freund Alan die Sündhaftigkeit seiner Sexualität einredete und ihn damit in den Tod trieb. Überhaupt geben sich in Charlies vermeintlich abgeschottetem Apartment die Nebenfiguren die Klinke in die Hand, und jede hat ihr eigenes Päckchen zu tragen: Thomas, der in die Bewältigung seines eigenen Familientraumas geworfen wird. Liz, die als Alans Schwester ebenfalls New-Life-versehrt ist. Charlies mit Alkohol- und Erziehungsproblemen geplagte Exfrau Mary (Samantha Morton). Und schließlich und vor allem Tochter Ellie, in der Schule Außenseiterin, die Spaß daran hat, entblößende Videos anderer Leute ins Netz zu stellen, laut ihrer Mutter ein bösartiger Mensch. Charlie, der gegenüber den guten Absichten anderer von schon fast kuriosem Optimismus erfüllt ist, sieht das natürlich ganz anders.

Dank der schön konfrontativ spielenden Sadie Sink (bekannt aus Stranger Things) gehören Ellies Begegnungen mit Charlie zu den besten und manchmal sogar bewegenden Momenten des Films. Doch insgesamt graben sich die Dialogszenen, in denen jede Figur mal mit jeder kollidiert, in ihrer Wirkung eher gegenseitig ab, trotz vieler gewichtiger Sätze entsteht selten ein Moment von Gewicht. Auch wenn man dem Stoff dem Willen zur Bedeutsamkeit in jedem Augenblick anmerkt, gleicht The Whale manchmal eher einer Soap Opera, die den befreienden Sprung in die Sitcom verpasst.

Findet ihr mich abstoßend?

„Do you find me disgusting?“, fragt Charlie andere Figuren mehrmals und scheint erst zufrieden zu sein, wenn sie endlich mit „Yes“ antworten, bei der von ihm angestrebten Katharsis geht es statt um Erlösung um Ehrlichkeit. Unangenehm ist das vor allem deshalb, weil der Film, der trotz der metaphorischen Ebene eben auch ganz buchstäblich viel vom schwierigen Alltag eines kaum noch bewegungsfähigen Adipösen zeigt, uns selbst diese Frage zu stellen scheint und uns immer wieder die Perspektive nahelegt, in Charlie schaudernd das verstörende Andere zu sehen. Der Misery-Porn-Vorwurf, sicherlich overused, trifft The Whale leider in weiten Teilen mit Recht. Wenn der Film dann doch mit einem Aronofsky’schen Over-the-Top-Moment schließt, der bei anderem Vorlauf eine Erlösung sein könnte, ist es dafür zu spät.

Der Film steht bis 25.02.2025 in der ARD-Mediathek.

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Kommentare


Manfred

Ein ergreifender Film mit perfektem Hauptdarsteller und hervorragenden weiteren Schauspielern. Sehr gut dosiert hinterlässt er einen nachdenklichen Kinogänger. Ich war begeistert und nachdenklich, geht ja auch zusammen.






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