Linda’s Child – Unterschätze nie, wozu eine Mutter fähig ist – Kritik
Francesca Gregorini erzählt von Verlusten, Schuldgefühlen und female bonding in der (schein-)idyllischen US-Vorstadt.

„My name is Emanuel. I’m 17 years old and I killed my mother“, heißt es in der Exposition von Linda’s Child – Unterschätze nie, wozu eine Mutter fähig ist. Da der Film hierzulande als „Horror-Thriller“ vermarktet wird, rechnet man nun mit dem Schlimmsten – mit Psychopathie und blutigen Taten. Der deutsche Untertitel erzeugt zudem Assoziationen zu grausig-fiesem Spuk: zum Mord an der Mutterfigur – und zur anschließenden unheimlichen Wiederkehr. Doch bereits nach kurzer Zeit erkennt man, dass die Zuordnung des Independent-Werks zum Spannungskino irreführend ist, so wie sich auch der zitierte Einstiegssatz als völlig verzerrte Darstellung der Ereignisse erweist.
Qua Geburt schuldig

Die Mutter von Emanuel ist tatsächlich tot – doch sie wurde nicht das Opfer eines von der Tochter verübten Gewaltverbrechens, sie starb bei Emanuels Geburt. Die junge Frau (Kaya Scodelario) gibt sich seit je die Schuld daran und bezeichnet sich als „murderer without a motive“, weil sie im Laufe ihrer Kindheit keine Eigenschaft, keine Begabung entwickelt hat, die sie zu etwas Besonderem gemacht hätte – was dem Unglück (wie sie glaubt) wenigstens so etwas wie einen Sinn hätte verleihen können. Äußerungen des adoleszenten Weltschmerzes wie „There’s no place for me“ und „I’m not supposed to be here“ sind in Coming-of-Age-Dramen gewiss keine Seltenheit, in Linda’s Child gehen sie aber in ihrer Wirkung über das in solchen Erzählungen übliche Maß hinaus. Die tragische Hintergrundgeschichte gibt dem Hader und Selbsthass der 17-Jährigen etwas Existenzielles, Unüberwindliches – denn Emanuel ist kein emo kid im Gefühlstaumel, sondern eine Person, die sich, seit sie denken kann, als schuldbeladenes Wesen begreift.

Die Protagonistin teilt dem Zuschauer anfangs per Voice-over ihre Gedanken mit; dennoch bringt sie ihn durch ihr Verhalten nicht unbedingt durchgängig auf ihre Seite. In ihrer (nachvollziehbaren) Anti-Haltung lässt sie es an verletzendem Hohn und Spott, an Kälte sowie an irritierender Zickigkeit gegenüber wohlmeinenden Mitmenschen nicht fehlen. Wenn Emanuel etwa ihre um Nähe bemühte Stiefmutter Janice (Frances O’Connor) in höchste Verlegenheit bringt oder wenn sie ihren Vater Dennis (Alfred Molina) zum wiederholten Male dazu auffordert, ihr in allen Details vom Todestag der Mutter zu berichten (ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass dies für ihn überaus qualvoll ist), dann wird die Grenze des vertretbaren juvenilen Aufbegehrens zuweilen durchaus überschritten.
Suburbia-Leben und Teenagerliebe

So interessant und herausfordernd das Werk von (co-)writer/director Francesca Gregorini als Psychogramm ist, so einfallslos ist es in der Visualisierung seines Milieus. Das vermeintlich beschauliche US-amerikanische Kleinstadtleben, das in charmanten Wohnhäusern und akkurat gepflegten Vorgärten hinter weißen Lattenzäunen stattfindet, wurde in so mancher Douglas-Sirk- und David-Lynch-Produktion und selbst in der Prime-Time-Soap Desperate Housewives (2004–2012) schon in prägnantere Bilder gefasst. Bei den wiederkehrenden Familientableaus, die Vater, Stiefmutter und Tochter am dinner table zeigen, kommt man indes kaum umhin, an die Gestaltung ähnlicher Szenen aus American Beauty (1999) zu denken – wobei Linda’s Child in diesen Momenten auch wegen einiger allzu gestelzter one-liner hinter der Dramödie von Sam Mendes zurückbleibt. Den gröbsten Drehbuchfehler, den viele Filme im Stile von American Beauty begehen, vermeidet Gregorini aber: nämlich die Überzeichnung der Nebenfiguren. Weder ist Janice eine spießbürgerliche Schreckschraube, noch wirkt Dennis wie ein überforderter Tropf oder ein abwesender Ignorant. „She’s fine“, räumt Emanuel etwa in Bezug auf ihre Stiefmutter ein. Wie es im Leben – seltener jedoch in der Fiktion – so ist, sind die meisten Leute hier keine zugespitzten Typen, sondern alles in allem ganz okay.

Gregorini gönnt ihrer Heldin auch einen Liebes-Subplot. Im Zug lernt Emanuel Claude (Aneurin Barnard) kennen – einen Jungen mit strubbeligen Haaren, treuen Augen und nettem Lächeln. Mit schöner Ernsthaftigkeit wird der Zauber der beginnenden Liebe eingefangen – wenn das Paar zum Beispiel gemeinsam auf Claudes klapprigem Rad in das Abenteuer „erstes Date“ fährt, sich anschließend zum Picknick auf einem Steg am See niederlässt und dort Zärtlichkeiten austauscht. Man kann sich allerdings des Eindrucks nicht erwehren, dass es Claude hier als love interest einzig und allein obliegt, attraktiv zu sein – und das Homoerotische in der zentralen Beziehung des Films durch seine (dramaturgisch weitgehend irrelevante) Anwesenheit ein wenig zurückzudrängen. Denn in den Fokus der Handlung rückt bald eine innig-intensive gleichgeschlechtliche Beziehung.
Eine enge Bindung

Als die alleinerziehende Mutter Linda (Jessica Biel) in das benachbarte Haus zieht, erweckt die sympathische Frau mit den hübschen Bohemien-Kleidern und dem perfekten Mobiliar das Interesse von Emanuel, die sich spontan als Babysitterin zur Verfügung stellt. Was zwischen den beiden Protagonistinnen entsteht, ist weder ein typisches (Ersatz-)Mutter/Kind-Verhältnis noch eine lesbische love story (wie Janice zeitweilig argwöhnt). Vielmehr treffen zwei Träume – und zugleich zwei Traumata – aufeinander; beide Frauen füllen im Leben der jeweils anderen eine Lücke. Emanuel wird vorübergehend Lindas Beschützerin – sie kann deren fragile Welt aber letztlich doch nicht vor dem Einsturz bewahren. Im dezidiert melodramatischen letzten Drittel des Films neigt sich die Geschichte zum Märchenhaften hin – wobei hier jedes Mehr an ozeanischen Visionen, Piano-Popmusik und Sternenhimmelaufnahmen zweifelsohne ein Zuviel wäre. Doch so, wie der finale Akt geworden ist, ist er in all seiner Emotionalität gewagt und gekonnt.
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