Der Prozess – Kritik

Neu auf MUBI: Ein Theater, in dem Wahrheit fabriziert wird. Sergei Loznitsas neuer Dokumentarfilm zeigt Archivaufnahmen eines Schauprozesses in der Stalin-Ära – eine Inszenierung, der man fast bis zum Ende ausgeliefert bleibt.

Einen Schauprozess unterscheidet von einem regulären Gerichtsverfahren, dass er bloß vorgetäuscht ist. Alles ist öffentlichkeitswirksam inszeniert, aber der Unterschied zu einem echten, legitimen Prozess ist nicht sichtbar. Nichts am Verfahren, das in Der Prozess zu sehen ist, deutet unmittelbar auf eine Täuschung hin. Sergei Loznitsa begnügt sich mit einem einzigen Kommentar am Ende des vollständig aus Archivaufnahmen bestehenden Films, der über die Täuschung aufklärt. Obwohl sie mit dem Wissen um den Totalitarismus der Stalin-Ära zu erahnen war, ist man bis zum Ende der Inszenierung ausgeliefert.

Keine Anhaltspunkte für Inszenierung

Die Archivaufnahmen zeigen den Gerichtsprozess gegen die „Industrie-Partei“ (prompartija), der 1930 in Moskau stattfand. Eine Gruppe angesehener Wirtschaftswissenschaftler und Ingenieure wird angeklagt, in Zusammenarbeit mit ausländischen Mächten den Ausbau der neuen sozialistischen Infrastruktur behindert und auf einen Zusammenbruch der sowjetischen Regierung hin operiert zu haben. Das Ereignis markiert den Beginn einer neuen Phase der sowjetischen Geschichte, in der die Bekämpfung und Ausmerzung von inneren konterrevolutionären Kräften, sogenannten Schädlingen, zum Hauptziel der revolutionären Entwicklung erklärt wurde und der Festigung von Stalins Macht diente, der unter diesem Vorwand alle Rivalen ausschaltete und seine autoritäre Linie zur einzigen Linie der Sowjetunion deklarierte. Der Prozess gegen die „Industrie-Partei“ wurde mit dem gerade erst entwickelten Lichttonverfahren aufgenommen und als Propagandafilm gezeigt.

Loznitsa hat die Aufnahmen neu geschnitten und gemastert und lässt das Publikum dem auf knapp über zwei Stunden komprimierten Gerichtsprozess beiwohnen, zeitweise unterbrochen von Bildern einer tobenden Masse in den Straßen Moskaus, die den Tod der Angeklagten fordert. Alles, wie gesagt, kommentarlos, wie es in Loznitsas anderen Dokumentarfilmen häufig der Fall ist, und nur mit wenigen Zwischentiteln. So wird man Zeuge eines Gerichtsprozesses, um dessen Inszeniertheit man zwar wissen kann, für die aber in den Aufnahmen eben keine Anhaltspunkte sichtbar sind. Die Gerichtsprozeduren erscheinen ordnungsgemäß, die Verhandlung wird sachlich geführt, auch wenn selbstverständlich die damalige Ideologie in jeder Argumentation präsent ist. Die Angeklagten bekennen sich alle für schuldig, flehen um ein mildes Urteil, versichern, einer Verführung erlegen gewesen zu sein, und bekennen die verbrecherische Schändlichkeit ihres Handelns. Auch das Volk auf den Straßen und im Gerichtssaal verlangt ihre Verurteilung. Alles und alle sind sich einig über die Wahrheit der Schuld der Angeklagten.

Wo Aufklärung ist, da ist Wahrheit

Der Prozess ist also ein Theater, in dem „Wahrheit“ fabriziert wird, und zwar vordergründig mit denselben Mitteln wie in einem nicht-inszenierten Prozess. Hierzu passt die Referenz des Titels auf Kafkas Roman, in dem es auch um die Prozeduren der Herstellung von Schuld geht, allerdings mit Betonung auf deren Undurchschaubarkeit. (Die Referenz wird gespenstisch, als die Kontaktperson der „Industrie-Partei“ – ein gewisser Herr K. – erwähnt wird). So wie bei Kafka die zentrale Legitimierungsinstanz, die alles durchdringt, vollkommen abwesend ist, fehlt auch bei Loznitsa das Machtzentrum: Stalin ist nur als Gespenst anwesend. Und gleichermaßen ist die Wahrheit hinter der Inszenierung dieses Schauprozesses unsichtbar.

Aber anders als bei Kafka zeigt sich die Absurdität in Der Prozess im Gewicht, das die sowjetische Inszenierung der Totalisierung der fingierten Wahrheit gibt. Zum einen besteht diese in der Einigkeit aller beteiligten Parteien. Zum anderen in der Tatsache, dass der Prozess gefilmt wurde. Loznitsa unterstreicht dessen Sichtbarmachung: Man bemerkt, wie mehrere Kameras von unterschiedlichen Blickwinkeln aus am Werk sind und immer wieder von der Bühne auf die Zuschauer schwenken und umgekehrt. Vor allem aber erkennt man an den Reaktionen der Zuschauer, die sich immer wieder abwenden oder ihre Gesichter mit Händen und Armen abschirmen, dass der Saal aufs Äußerste von Licht durchflutet ist. Es ist die Fiktion der totalen Aufklärung, die durch Sichtbarmachung hergestellt werden soll. Denn wo Aufklärung ist, da ist Wahrheit.

Lügen, die vergessen, dass sie Lügen sind

Loznitsa interessiert sich also eigentlich nicht für die Wahrheit jenseits der Inszenierung. Er interessiert sich für die Inszenierung des Prozesses. Dass eine „Industrie-Partei“ nie existiert hat oder dass die Verurteilten nach dem Prozess nicht hingerichtet und einige sogar stillschweigend wieder hohe Posten besetzt haben, dass hingegen der Generalstaatsanwalt selbst wenige Jahre später den stalinistischen Säuberungen zum Opfer fiel – das sind eher unbedeutende Tatsachen, die den Film begleiten, wenngleich sie das Maß an Inszeniertheit, das Maß an Absurdität deutlich machen. Die dokumentarischen Aufnahmen zeigen, so Loznitsa mit Bezug auf Godard, „24-mal pro Sekunde nur Lügen“. Lügen, die eine derart totale Wahrheit fabriziert haben, dass sie vergessen haben, dass sie Lügen sind – vielleicht ist das der Grund, warum die Aufnahmen für die Nachwelt erhalten geblieben sind.

Den Film kann man sich auf MUBI ansehen.

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