The Souvenir – Kritik
Caught in a lie: Joanna Hogg erzählt in The Souvenir von einer jungen Filmemacherin, für die Erwachsenwerden bedeutet, die Kunst der Hochstapelei zu erlernen. Denn alles ist konstruiert, ob im Leben, in der Liebe oder im Kino.

Wenn du mich anlügst, und ich weiß, dass du lügst, aber nichts sage: Lügen wir dann gemeinsam? Oder teilen wir eine unausgesprochene Wahrheit? Und wenn ich weiß, dass Film Illusion ist, dass auch eine Dokumentation nur so tut, als ob sie das reale Leben zeige: Muss ich jedem Bild dann misstrauen? Oder fängt das Vertrauen ins Kino erst in genau diesem Moment, in dem ich sein Geheimnis erraten habe, wirklich an? The Souvenir dekliniert solche Fragen offen und auf vielen Ebenen durch, ohne zwanghaft Antworten finden zu wollen. Es ist ein selbstreflexiver, autobiografisch grundierter Film-übers-Filmemachen, der aber niemals zur persönlichen oder ästhetischen Nabelschau wird, sondern Nachdenken über Film benutzt, um besser übers Leben nachdenken zu können.
Upper-Class-Girl Julie (Honor Swinton Byrne) will Regisseurin werden, um aus ihrer privilegierten Rolle raus ins harte Leben zu finden, irgendwas Sozialrealistisches über die arbeitslosen Dockarbeiter in Nordengland. Aber die Männer um sie herum zweifeln und zwingen sie dauernd zu Erklärungen. Der Filmhochschullehrer doziert etwas verschwurbelt: „The art is to somehow make a connection between your experience and the experience you try to film.“ Soll heißen: Was weiß sie, Sprössling kleinadeliger Eltern mit Landhaus und Angestellten, vom Schicksal der Arbeiterklasse unter Thatcher? Und dann ist da noch Anthony (Tom Burke), der enigmatische Diplomat, der bei Champagner im barocken Clubrestaurant über den Unterschied zwischen real und truthful, zwischen wirklich und wahrhaftig, quatscht. Filme seien sinnlos, wenn sie nicht Wahrheit konstruierten.
Ich weiß was, was du weißt
Die sich anbahnende Romanze zwischen Julie und Anthony bringt erst das Wirklichkeitsverständnis der jungen Regisseurin zum Bröckeln und alsbald die Reflexionsmaschine von The Souvenir ins Rotieren. Anthony ist nämlich ein Hochstapler, ein moderner Krull, ein als Weltbürger getarnter Junkie. Und wir, das heißt Julie und ihr Publikum, ahnen das schnell und wissen es bald. Aber Julie konfrontiert ihn nie, sondern spinnt bald immer lebhafter an seinen Lügengeschichten mit. Und er weiß, dass sie es weiß.
Die so oft bemühte Floskel vom Filmeschauen als „Denken mit den Augen“ greift bei The Souvenir vollkommen. Das Verhältnis von Welt und Bild – was wählen wir aus, was lassen wir raus, mit welcher Kamera drehen wir, ist das Bild statisch oder bewegt? – steht ständig zur Disposition und wird so zum Generator für Übertragungen in alle möglichen Richtungen. Oft wechselt eine von Stativ gefilmte, sehr genau kadrierte Einstellung plötzlich in verwackelte 16mm-Handkamera-Fragmente des gleichen Moments und damit in Bilder, wie sie Julie bei jeder Gelegenheit von sich und ihren Freunden sammelt. Leben leben, Leben inszenieren, wo verlaufen die Grenzen? Obendrein ist Hauptdarstellerin Swinton Byrne die Tochter von Tilda Swinton, die wiederum auch hier – mit der ihr eigenen Liebe zur Verkleidung – die Mutter spielt. So verlängert sich das Spiel, was erfunden ist und was real, auch ins Äußere des Kinos.
Joanna Hogg ist ein konstruktivistischer Film par excellence gelungen. Er hilft uns verstehen, dass Realität, dass soziale Klasse, dass zwischenmenschliches Begehren immer hergestellt, immer zu gleichen Teilen real und eingebildet sind. Aber diese Einsicht bedeutet nicht, dass alles leicht veränderbar wäre. Im Gegenteil wird Julies Liebe zu Anthony in dem Maße obsessiver, wie sie seine Hochstapeleien zu durchschauen lernt, wird ihre Identifikation mit ihrer privilegierten Herkunft fester, je öfter sie um Geld bettelt, wird ihr künstlerisches Selbstvertrauen größer, je weiter sie sich von dem Wunsch nach unmittelbarer Darstellung der Realität entfernt. Und auch wir verstricken uns umso tiefer in diese Figuren, je mehr wir sie als Erfindungen zu durchschauen lernen. Wir teilen die große Lüge.
Erkennen und Verkennen bedingen sich

Jede Beziehung hier ist räumlich, und damit Sache von Perspektive, von Kadrage, von Schnitt: Wenn eine Person im Spiegel erscheint, verschwindet die andere im Durchgang dahinter. Das Bett, in dem Julie und Anthony liegen, wird sofort genau ausgemessen, wer hat mehr Platz, wer hat weniger. Ich bin hier, du bist da, und wir sind gemeinsam in einem Bild. Die Gemachtheit der Welt wird so fühl- und erkennbar, seien es die Klassengegensätze Englands, die hier nichts sind als Inszenierung von Raum, Kostüm und Sprache, seien es die Gesetze der Liebe, bei denen sich das Erkennen und Verkennen des anderen in ähnlicher Weise dialektisch bedingen wie das Darstellen und Verzerren der Welt im Film.
Damit umkreist The Souvenir ganz ähnliche Fragen wie Angela Schanelecs Ich war zuhause, aber, der am gleichen Tag bei der Berlinale Premiere hatte. Aber während Schanelec über die prinzipielle Unerkennbarkeit des Anderen und die grundsätzliche Lüge des (Schau-)Spielens in möglichst keimfreien, von allem kontingenten Schnickschnack befreiten Denkbildern sinniert, bejaht Hogg körperliches Begehren, Undeutlichkeit und Missverständnisse. Gegenüber der überbordenden, auch mal querschießenden Experimentierfreudigkeit Hoggs wirkt Schanelecs Strenge seltsam zahm und risikoscheu. So erscheint The Souvenir als der zugleich leichtere wie tiefere, der zugleich zugänglichere wie gewagtere, der reichere wie präzisere Film, weil er das komplexe Konglomerat aus Sehen/Fühlen/Denken, das sich im Kino ereignet, nicht auf einige wenige Ebenen verflacht, sondern in viele verschiedene Kombinationen ausfransen lässt. Weil er theoretische Einsichten erreicht, ohne die realweltlichen (historischen, sozialen) Bezüge aus der Erzählung zu verbannen. Und weil er weiß, dass auch Humor und Lachen dem Reflektieren nicht im Wege stehen. Mal sehen, wie es weiter geht: Teil II – mit Robert Pattinson in einer Hauptrolle – ist bereits angekündigt.
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