The Son – Kritik
Von Drill, Tod und Tränen: Alexander Abaturovs The Son unterwandert die Faszination militärischer Perfektion mit der Trauer um einen Gefallenen.
Ein rotes Barrett ist der einzige Farbfleck im Gewirr der Gefechtsübung. Eine tarnfarbene Masse von Soldaten sammelt sich um den Träger. Der Ausbilder hat sich soeben seine Prothese vom Bein gerissen und ist in Koordination mit dem simulierten Feuerüberfall zu Boden gestürzt. Das unter dem Knie abgetrennte Bein und sein rotes Barrett weisen ihn als Veteran der GRU Speznas aus, einer Spezialeinheit des russischen Militärs.
Ehre, Kameradschaft, Patriotismus

Auch Dima hat das rote Barrett getragen – bis zu seinem Tod. Mit 21 Jahren ist er im Nordkaukasus gefallen. Sein Tod wirft einen Schatten über die Bilder, in denen Alexander Abaturovs Debütfilm die Ausbildung seiner Nachfolger zeigt. Es sind junge Männer aus allen Teilen Russlands, die das Mantra von Ehre, Kameradschaft und Patriotismus ebenso verinnerlichen wie den Drill, der ihr Leben bis auf die letzte Sekunde bestimmt. Bei den Speznas wird nicht nur die Nachtruhe befohlen, sondern auch die 30 Sekunden zum Finden einer angemessenen Schlafposition. Gibt es für einige Momente einmal nichts zu tun, lernen die Anwärter den Text des Eids, den sie ablegen werden. Doch der Film macht die Soldaten dabei nicht zu Protagonisten. Es gibt weder einen einzelnen Rekruten noch eine Gruppe, die begleitet oder gar namentlich hervorgehoben werden. Die Soldaten werden in der Ausbildung immer als Einheit gezeigt.
Der einzige Name, den der Film ausspricht, ist Dima. Die Trauer der Eltern um seinen Tod unterbricht immer wieder die faszinierenden Bilder der Ausbildungsabschnitte. Abaturov kappt geschickt das Momentum, das die Extremsituationen der Militärausbildung aufbauen. Statt das Feuerwerk der nächtlichen Gefechtsübung zu bewundern, wechselt er mit einem harten Schnitt auf den Friedhof, auf dem Dima beigesetzt werden soll. Vor dem halbfertigen Grab steht Dimas Vater. Halb zu ihm und halb zu sich selbst sagt der Mann, der die Trauerstätte mit den letzten Kacheln verkleidet: „Ich habe auch einen Sohn verloren.“ Der Vater setzt das Gespräch nicht fort. Was unausgesprochen bleibt, ist deutlich in seinem Gesicht ablesbar. Es trägt den leeren Ausdruck, den der Vater bis zur Beerdigung seines Sohnes nicht ablegen wird.
Letzte Rituale

Die Beisetzung wird mit dem Abschlusstest der Speznas-Anwärter gespiegelt. Diese werden, noch vom Abschlussmarsch verletzt und völlig verausgabt, von ausgeruhten Elitesoldaten im Nahkampftest blutig geprügelt. Wer das Bewusstsein verliert – ob beim Marsch oder in der improvisierten Arena – wird mit Riechsalz geweckt und anschließend aussortiert. Wer am Ende noch steht, feuert die einzige Patrone ab, die ihm ins Magazin seines Gewehrs geladen wurde, schreit mit von Stolz und Schmerz verzerrter Stimme seine Zugehörigkeit zu den Speznas hinaus und küsst im Anschluss das rote Barrett, das ihm feierlich überreicht wird. Für die jungen Männer ist es das letzte Ritual vor dem Leben als Elitesoldaten. Auf den stolzen Moment folgt Dimas Beerdigung. Auch sie steht im Zeichen des Militärs. Der orthodoxe Priester nennt Dima einen Krieger. Kameraden legen schwarze Rosen vor das Grab, auf dem der als Statue verewigte Junge sein rotes Barett noch in den Händen hält. Noch im Tod ist der 21-Jährige ein Speznas. Doch nicht nur ein Soldat, und genau das scheint Dimas Tod in Erinnerung zu rufen, ist gestorben, sondern auch ein Junge, ein Freund, ein Sohn.
Es ist dieser Kontrast – zwischen Einheit und Individuum, zwischen Soldat und Mensch – den The Son in der Trauer herausarbeitet. Eine Struktur, die immer wieder bewusst markant hervorsticht und den Film zu einer Art trockenen Elegie macht, die nicht nur Dima, sondern auch die Folgegeneration jener Männer beklagt, die erst wieder als Individuen zurückkehren werden, wenn ihr Dienst endet – lebendig oder tot. Ein einziges Mal schafft es Abaturov, auch während seines Besuchs in der Einheit hinter die Maske des Militärischen zu schauen. Er stellt die Kamera direkt vor den Soldaten auf und lässt sie hineinblicken. Statt der namenlosen Gesichter der Militäreinheit sind plötzlich junge Männer zu sehen. Männer die lächeln, Grimassen ziehen, verunsichert stottern, frei sprechen und Witze machen. Ein flüchtiger Moment, der damit endet, dass die Speznas ihre Vorfreude auf den Kaukasus-Einsatz bekunden. Schon im nächsten Bild stehen sie auf der Rampe eines Transportflugzeugs. Es ist das letzte Ritual vor dem Kriegseinsatz im Kaukasus. Was sie erwartet, erahnen nur ihre Schäferhunde, die verängstigt auf- und abgehen. Die Träger des roten Barretts bleiben furchtlos. Dann schließt die Rampe.
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