The Shadow Play – Kritik

Lou Yes neuer Thriller treibt seine Figuren durch die Gassen von Guangzhou und entlarvt, wohl unabsichtlich, Mechanismen der chinesischen Zensur.

Probleme liegen in China meist in der Vergangenheit. Was vorbei ist, darf kritisiert werden, da es inzwischen überwunden wurde. Am deutlichsten wird das in der offiziellen chinesischen Geschichtsschreibung, die mit hoher Präzision ermitteln konnte, dass Mao zu 70 Prozent recht hatte und zu 30 Prozent unrecht. Seit Mao hat kein anderer Herrscher im Reich der Mitte so viel Macht angehäuft wie der aktuelle Staatschef Xi Jinping. Folgerichtig hat er die Zensur verschärft – bis hin zu Verboten von Winnie the Pooh. Zum Staatspräsidenten ernannt wurde Xi übrigens im Frühjahr 2013. Die Erzählung von Lou Yes neuem Film The Shadow Play endet exakt in dieser Phase, reicht aber bis in die 1980er Jahre zurück. Das Vergangene darf kritisiert werden – das Jetzt ist eine andere Geschichte, eben weil es noch keine Geschichte ist.

Lehrstunde des immersiven Kinos

Per Drohne fliegen wir zu Beginn aus dem nebligen Wald, wo eine Leiche gefunden wurde, in die Stadt – nach Guangzhou. Dort rasen wir durch die dunklen Gassen, folgen rennenden jungen Männern mit Baseballschlägern und sehen zu, wie sie auf einen privaten Sicherheitsdienst losgehen, weil ihre Häuser abgerissen werden sollen. In den Tumulten stirbt der Politiker Tang Yijie (Zhang Songwen), der ursprünglich selbst aus dem Viertel stammt, es aber mit dubiosen Geschäften zu Reichtum und Macht gebracht hat. War es ein Unfall? Oder hat ihn jemand ermordet? Sein Nebenbuhler, seine Frau, ein Bewohner des Viertels? Das herauszufinden ist Aufgabe des jungen Polizisten Yang Jiadong (Jing Boran).

The Shadow Play ist ein klassischer Whodunit-Thriller, der auf typische Erzählmuster setzt: den einsamen, moralisch nicht ganz einwandfreien Detektiv etwa, den wir aus Noir-Krimis kennen. Und auf die Wiederkehr von Anfangssequenzen, die spät im Film aus einer anderen Perspektive gezeigt werden. Dieser Trick mag etwas abgegriffen sein, doch das ist nicht das zentrale Problem von The Shadow Play. Stattdessen scheitert der Film daran, dass sich die stilistisch evozierte, physische Desorientierung der ersten Hälfte während der zweiten Hälfte in eine narrative Desorientierung verwandelt. Zu Beginn reißen uns Lou Ye und sein Kameramann Jake Pollock mit ins Geschehen, indem sie voll auf Kinetik setzen: Nicht nur die Figuren, sondern auch die Blicke der Kamera sind stets in Bewegung. Cutterin Zhu Jolin schneidet fast durchgängig in diese doppelte Bewegung hinein. Auf was wir auch blicken: Die Protagonisten laufen, springen oder fahren – die Kamera hetzt mit, wackelt und schwenkt wild umher. Diese erste Hälfte ist eine Lehrstunde des immersiven Kinos.

Aus physischer Desorientierung wird narrative Verwirrung

Der Film kippt, als Detektiv Yang vom Jäger zum Gejagten wird und nach Hongkong flieht. Dass es zu dieser Flucht nur kommt, weil Testosteron seine Hirnfunktionen schwer beeinträchtigt, und dass es dem chinesischen Überwachungsstaat nicht gelingt, ihn über sein Handy zu tracken – okay, geschenkt. Das größere Problem ist, dass das Drehbuch an so vielen Fronten fabuliert, dass der Überblick irgendwann vollkommen verloren geht: So springt der Film unablässig zwischen verschiedenen Zeitebenen, Orten und Figurenkonstellationen. Wer wen wie und warum hintergeht und wer mit wem weshalb kooperiert – dieser rote Faden lässt sich irgendwann nicht mehr aufrollen. Zudem ersetzt Ye die Spannung der ersten Hälfte zunehmend durch Actionszenen, die sich ebenfalls nicht immer so recht nachvollziehen lassen – ein besonders arges Beispiel ist ein hanebüchener Kampf ums Lenkrad in einem Auto, das anscheinend nur beschleunigen, aber nicht bremsen kann.

Was der Film erzählt, wird inmitten der Verwirrung im Kinosessel zur Nebensache. Wesentlich interessanter ist, was er über das chinesische Zensursystem verrät: Es fällt nicht nur die scheinbar unmotivierte Verlegung des Plots in die Vergangenheit auf, sondern auch, dass an all der Korruption, Enteignung, Unterdrückung, Gewalt und der Diktatur des Kapitals immer nur die kleinen Fische schuld sind. Wie auch im wesentlich stärkeren I Am Not Madame Bovary (Wo bu shi Pan Jin Lian, 2016) stinkt der Fisch immer nur vor Ort, aber nie in Peking.

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