The Other Side Of The River – No Woman, No Revolution – Kritik

VoD: Ein Jahr lang hat Antonia Kilian eine vor dem IS geflüchtete Frau begleitet, die sich in Rojava zur Polizistin ausbilden lässt. The Other Side of the River ist eine filmische Intervention, in der Kino und Befreiung zusammenfallen.

Der Euphrat im Nordosten Syriens, ein breiter, langer Fluss, um den sich die Mythen ranken. Ein Ei soll einst aus dem Himmel ins Gewässer gefallen sein. Und es wäre ihm, so besagt es die Erzählung weiter, anstelle eines Tierbabys eine wunderliche Gestalt entschlüpft, eine Göttin nämlich, diejenige, die für das Wasser, den Mond und die weibliche Kraft zuständig ist. The Other Side of the River ist diese Legende vorangestellt, und so ganz wird der Film sie nicht los. Denn Hala Mostafa, an die sich die Dokumentarfilmerin Antonia Kilian haftet, wirkt darin wie ein solches Zwischenwesen, zuweilen zum faszinierenden, wütenden und in der Wut rechtmäßig auftretenden Racheengel stilisiert, der allerdings zu früh in den Brunnen gefallen scheint, als dass seine Flügel funktionsfähig wären.

Blicke über den Fluss

19 Jahre ist Hala alt, kein Küken mehr, aber eben auch nicht die ausgewachsene Henne, als die sie gerne wahrgenommen werden will. Abgehauen ist sie aus ihrem Elternhaus im durch die kurdischen Streitkräfte vom IS befreiten Manbidsch, wo sie ihre Familie mit einem Kämpfer der Terrormiliz verloben wollte. Während eine ihrer Schwestern zwangsverheiratet wurde, floh Hala über den Euphrat. Dieser ist in The Other Side of the River folglich ein doppelter Ursprung von Erzählungen, fließen in ihm doch die göttliche Geburt und Halas Emanzipation zusammen.

Doch der Fluss, den Kilian häufig in seiner Breite und Länge vorführt, ist nicht nur verbindend unterwegs. Dem Film dient er im Wesentlichen als Markierung einer Trennung, als sichtbarer Sicherheitsabstand, den Hala zwischen sich, ihre Angehörigen und weitere Bedrohungen des seit 2011 andauernden Kriegs in Syrien gebracht hat. Ein Trugbild, weil diese Sicherheit und diese Grenze nicht so stabil sind, wie sie anmuten – letzteres hat Hala ja selbst bewiesen, als sie den Euphrat überquerte. Die Ränder der Ufer weichen auf, der Blick auf das nicht fremde, aber feindliche Territorium ist zugleich voller Sehnsucht nach dem Ort der Kindheit und Jugend, an dem sich die jüngeren Geschwister immer noch befinden. Als Kilians Film einsetzt, ist zwar das Unglück der Hala schon passiert, aber das der anderen, der reellen und ideellen Schwestern, kann möglicherweise noch vermindert oder sogar verhindert werden, wenn es nach Ansicht der jungen Frau geht. Sie hat sich nach ihrer Flucht dem kurdischen Militär angeschlossen und steht zu Beginn von The Other Side of the River am Ende der Ausbildung an der Polizeiakademie in der autonom verwalteten Provinz Rojava.

Undichte Stellen im kontrollierten Auftritt

Dort lernt Hala, schon als Anleiterin für die Neuzugänge tätig, auch die Regisseurin und Kamerafrau aus Deutschland kennen. 2016 ist Kilian nach Syrien gereist, wie eine Stimme, ihre Stimme, aus dem Off erklärt. Gemeinsam mit einer Übersetzerin trifft sie dort auf die Mitglieder der Verteidigungseinheit, bittet die Polizistin in spe mit dem hübsch geflochtenen Zopf um ein Gespräch. Als Hala auf die erste Frage antworten will, sind Schüsse zu hören, zum Glück nur Ergebnis einer Notfallübung, wie sich nach kurzer Verwirrung herausstellt. Später dann erzählt Hala ohne äußere Unterbrechungen von der familiären Gewalt, die sie erlebte, und den Gräueltaten gegenüber Frauen und Kindern, die sie im Krieg gesehen hat, und die sie motivierten, zur Polizei zu gehen. „Ich werde für Gerechtigkeit sorgen“, sagt Hala schließlich, fährt sich mit den Händen über das Gesicht. Schnell spricht sie weiter, als hätte die Kamera ihre Tränen nicht bemerkt.

The Other Side of the River umschifft die voyeuristischen Gefahren, die in diesen Szenen liegen und zieht aus dem Prinzip der Beiläufigkeit seine Qualität. Immer wieder lenken die Aufnahmen der betont kontrollierten, coolen Auftritte von Hala und ihren Mitstreiterinnen die Aufmerksamkeit auf die undichten Stellen ihrer Performance, verweisen auf das, was sich der Kontrolle, der Beherrschung des Gefühls und der robusten, leistungsfähigen Ausbildungskörper entzieht. Dabei formuliert Kilians Film Politisches, ohne es zu explizieren, indem er Architekturen, Landschaften, Leiber zueinander ins Verhältnis setzt. Vorwiegend Frauen sind es, die uniformiert über die Erde robben, hochspringen, stillhalten, liegen bleiben, essen, atmen, singen, zocken, über den Übungsplatz marschieren, losrennen, sich anfeuern und wieder antreiben, ehe sie am Abend miteinander unter dem rotgefärbten Himmel am Lagerfeuer sitzen. Wie selbstverständlich und weitestgehend unkommentiert das gezeigt wird, was medial als „Rojava Revolution“ besprochen wurde, ist geradezu aufregend.

Feministische Bewegungen nach innen und außen

„No Women, No Revolution“: Obgleich der Untertitel von The Other Side of the River die prominente Rolle ausweist, die seit Jahren der weiblichen Bevölkerung in der Region im Kampf an der Front und der Veränderungen des politischen Systems zukommt, verzichtet die Regisseurin im Film selbst auf eine Einordnung der größeren Zusammenhänge. Stärker konzentriert sich Kilian auf Hala als Teil einer feministischen Bewegung, die sich auf sehr unterschiedliche gegnerische Parteien vorbereiten muss – und dabei ebenso gegen die eigene Sozialisation in einer patriarchal organisierten Gesellschaft ins Feld ziehen muss. Nicht nur die äußere, auch die innere Welt gilt es umzustrukturieren. Kein Problem für Hala: „Ich habe 20 Jahre ohne einen Mann gelebt, ich schaffe auch 100 weitere.“

Bewunderung könnte ein Begriff sein, mit dem sich beschreiben lässt, wie The Other Side of the River seinem Personal begegnet, und doch trifft es das nicht ganz. Denn trotz der Anerkennung und der Sympathie, die die Kamera den Menschen entgegenbringt, folgt sie nicht bloß bereitwillig dem alltäglichen Geschehen, obwohl Hala es gelegentlich so aussehen lassen will, wenn sie den Kolleginnen versichert, dass die Filmemacherin alles tue, was sie ihr sage. Ein Jahr lang hat Kilian in Syrien gedreht, jungen Frauen Workshops zum Umgang mit Filmtechnik gegeben und mit ihnen Kurzfilme über Frauenrechte gedreht. Für The Other Side of the River arbeitete sie außerdem mit dem Komina Film a Rojava zusammen, einem 2015 gegründeten Kollektiv aus Filmemacher*innen der nordsyrischen Region. Die Co-Direktorin der Organisation Sevinaz Evdike übernahm in Kilians Projekt die Produktionsleitung, und auch weitere Positionen bei der Herstellung des Filmes wurden von Personen mit Fluchtgeschichten übernommen.

Das Wissen darum überlagert das Gesehene, Eindrücke der Konkurrenz von Blicken und Feminismen (für wen eignet sich Hala eigentlich als Postergirl der Revolution?) weichen denen der Kollaboration. Statt bewundernder Begleitung wird ein aktivistischer Eingriff vorgenommen. The Other Side of the River lässt sich als eine gemeinsame, filmische Operation verstehen, die in ihrer Entschlossenheit den Menschen ähnelt, die zu sehen sind und mit denen sie durchgeführt wird; ein Film, in dem Kino und Freiheit gleichsam Projekte sind, die nicht allein, sondern kollektiv durchgeführt werden, und die erst ihre Vollendung finden, wenn alle befreit sind.

Der Film steht bis 17.03.2024 in der 3Sat-Mediathek.

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