The Other Side – Kritik
Roberto Minervini lässt sich weiter durch Amerika treiben – und durch den Grenzbereich von Doku und Fiction, in dem mal wieder die Fallstricke des politischen Kinos sichtbar werden.

„We will never be slaves to nobody“, verkündet der zahnlose Alte und nimmt einen tiefen Zug von seiner Zigarette, als wäre die Nikotinsucht nicht eine Form der Abhängigkeit, sondern untrügliches Zeichen von Selbstbestimmung. Später wird ein kleines Privatflugzeug durch die Lüfte von Louisiana düsen und ein Transparent hinter sich herziehen, das den gesammelten Aussagen dieses Films einen gemeinsamen Nenner zu schenken scheint: „Legalize Freedom!“ Doch so neugierig und unvoreingenommen sich Roberto Minervini den Bewohnern von West Monroe nähert, so sehr er seine eigene Funktion, seinen eigenen Blick herausstreichen will aus diesem Film: Sich diese ihre Aussagen zu eigen machen, das möchte er dann doch nicht.
Aufstände von Anständigen
So heißt sein Film The Other Side. Das ist zwar ebenfalls einem der in ihm aufgezeichneten Monologe entnommen, ruft aber zugleich jene Tradition der kompromisslosen Erforschung amerikanischer Lebensrealitäten an den Rändern der Gesellschaft in Erinnerung, die spätestens mit der Epoche des offensiven social engineering zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Repertoire US-amerikanischer Liberaler gehört. Suche nach dem amerikanischen Albtraum, ethnografischer Blick nach innen, Wille zum Wissen über diejenigen, die mitten im Herzen Amerikas in einer völlig anderen Welt leben. Der dänische Fotograf und Sozialreformer Jacob Riis nannte 1890 seine Reportage aus den New Yorker Slums How the Other Half Lives, Michael Harrington seinen Weckruf aus dem seligen Schlummern der Nachkriegszeit The Other America. Harrington ist auch deshalb eine wichtige Referenz für diesen Film, weil er den Begriff des Neokonservatismus geprägt hat, den Minervini hier mit Leben füllt: diese eigentümliche Mischung aus dem Bewahren von Werten und Tradition und der Attitüde des sich belagert wähnenden Rebellen; die Hüter des Anständigen, die sich zugleich als unangepasste Aufständische fühlen. In der letzten Einstellung wird ein Auto in Flammen aufgehen.
Written by Life?
Nach Abschluss seiner stärker narrativen Texas-Trilogie wirft Minervini für diesen nun deutlich politischeren, ambitionierteren Film allerlei fiktionalen Ballast über Bord, nähert sich den abgehängten und deshalb umso redseligeren Bewohnern des Metamphetamin-Zentrums West Monroes noch unvermittelter als dem jungen Mädchen aus Stop the Pounding Heart, deren Geschichte der Emanzipation aus der ultrareligiösen Erziehung er durch Auswahl und Reihung seiner Sequenzen noch leise akzentuierte. Die Beschwörung der neorealistischen Tradition ist endgültig dem cinéma vérité gewichen. „Written by“ wird am Ende des Films zwar stehen, aber es fällt nicht schwer, dem Regisseur zu glauben, dass die Figuren von The Other Side nur in dem Maße Figuren sind, wie ihre Handlungen und Aussagen in einem Bild verortet und impulshaft angeleitet wurden, dass es in der Substanz dieser Handlungen und Aussagen aber zwischen person und character kaum einen Unterschied gibt; dass diese Leute sich selbst spielen, oder genauer: dass das, was sie in diesem Film spielen, ihr Leben ist.
Waffe zur Freiheit

Im ersten Teil folgt The Other Side dem drogenabhängigen und polizeilich gesuchten Mark, der häufig splitternackt zu sehen ist: der Körper als Übriggebliebenes und als letzte Bastion. Mark gehören Momente der Zärtlichkeit – mit seiner Freundin Lisa, mit seiner krebskranken Mutter, mit seiner Oma – ebenso wie tieftraurige Geständnisse: Sollte seine Mutter sterben, wird er sich den Cops stellen, weil er den Drogen sonst endgültig verfiele. Im zweiten Teil geht es um eine Gruppe von Ex-Soldaten, die sich auf einen kommenden Bürgerkrieg vorbereiten. Die zu wissen glauben, dass es knallen wird, dass es eine Revolution geben wird, wenn der Staat endlich alle Hüllen fallen und das Kriegsrecht ausrufen lässt. Die dann einfach nur ihre Familie schützen wollen. Die ihre Waffen tragen, weil es ihr Recht ist. Die ihre angebliche Freiheit nur aushalten, wenn sie in Handlung übersetzt werden, wenn sie sich immer wieder bestätigen kann. Man hat nicht nur die Freiheit und das Recht, eine Waffe zu besitzen; man besitzt eine Waffe, um sich, von Abhängigkeiten umgeben, noch als freier und mit Rechten ausgestatteter Bürger wahrnehmen zu können.
Die Rezeption des Selbstbestimmten
In beiden diesen Teilen sind Wut und Hass auf die Obrigkeit spürbar, die vor allem an Barack Obama ausgelassen werden: Obama wird rassistisch beschimpft, sein Foto wird für eine Schießübung missbraucht, auf einer Party gibt’s einen Blowjob durch eine Frau mit Obama-Maske. The Other Side ist nah dran und blickt gerade deshalb von weit oben auf den spätestens seit den 1970er Jahren angelegten Bruch zwischen den selbsternannten Bewahrern „amerikanischer Werte“ und ihren offiziellen Repräsentanten in Washington – und sieht in den dadurch entstandenen Abgrund, nach ganz unten. Doch auch Überraschendes tritt hier manchmal zutage: Obama wird nicht zuletzt angelastet, er würde nicht einmal was für die Schwarzen tun. Ein alter Mann setzt große Hoffnungen in die Demokratin Hillary Clinton, schließlich wären die Frauen doch eh die besseren Manager. Und der Ausbilder der paramilitärischen Gruppe hält es für wahnwitzig, als Land mit einer gerade mal gut 200 Jahre alten Geschichte in eine Region einzumarschieren, die Tausende von Jahren alt ist. Nicht mit ihren Boys da drüben identifizieren sich diese Männer, sondern mit den Irakern, denen die Selbstbestimmung verweigert wird.
Slumming in Louisiana
„We will never be slaves to nobody“, das ist der letzte Strohhalm. Selbst bestimmen über jenen Rest von Leben, der noch übrig ist in West Monroe, Louisiana. Aber nicht mal Sklave von Roberto Minervinis Amerika-Porträts sein? Da wird’s schon schwieriger, wenn dieses aus der Freiheitsfiktion des ungeschönten Blicks gewonnene Bild auf die Leinwände dieser Welt projiziert wird, wenn der Film seinen Weg antritt von der selbstbestimmten Produktion in den offenen Raum der Rezeption. Von den einen als authentisches Bild des eigenen Lebens gemeint, von den anderen als Psychogramm des verarmten White America verstanden. Minervinis Herausstreichen der eigenen Haltung mag die unbehagliche Poesie von The Other Side erst hervorbringen. Als politische Haltung ist dieser Ansatz aber nicht unproblematisch: Reflektiert erscheint uns der Film nur in der doppelten Negation, weil er scheinbar unreflektiert auf scheinbar unreflektierte Menschen blickt. Mit dieser prekären Politik ist Minervini vielleicht nicht nur dem aufklärerischen Impetus, sondern auch den voyeuristischen Effekten seiner Other-Vorgänger näher, als er glauben mag.
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