Der Junge und der Reiher – Kritik

Niedlich lächelnde Seifenblasen und in Heidelberg verliebter Steampunk: Hayao Miyazakis neuer Anime fühlt sich nach einer Heimkehr des Meisters an. Doch als Gleichnis ist die Geschichte um einen Jungen, der von einem Reiher in eine Fantasiewelt gelockt wird, viel offener als frühere Filme.

Kinder, die sich in Fantasiewelten retten, weil die Mutter im Krankenhaus liegt (Mein Nachbar Totoro, 1988) oder weil sich die Eltern als Schweine offenbaren (Chihiros Reise ins Zauberland, 2001), sind ebenso zentral in der Filmographie des Hayao Miyazaki wie Fantasiewelten, die Gleichnisse bezüglich kippender Gleichgewichte beinhalten. Mal liegen die Gründe in der Umweltverschmutzung (Nausicaä aus dem Tal der Winde, 1984), mal im Krieg (Prinzessin Mononoke, 1997), immer aber in der Ignoranz der Menschheit. Schon der Grundriss seines jüngsten Films offenbart, dass Hayao Miyazaki mit Der Junge und der Reiher (Kimitachi wa Dō Ikiru ka) sehr klassisch aus einem abermaligen Ruhestand zurückkehrt.

Heimkehr des Meisters

Die Handlung beginnt mitten im Zweiten Weltkrieg: Der junge Mahito verliert bei einem Luftangriff seine Mutter. Sein Vater flüchtet daraufhin mit ihm aufs Land, wo er mit seiner Umwelt fremdelt. Um nicht in die Schule gehen zu müssen, schlägt er sich mit einem Stein eine Wunde in seinen Kopf. Seiner Stiefmutter – der Schwester seiner Mutter – begegnet er zwar nicht feindselig, aber mit Distanz. Der Vater selbst glänzt mit Abwesenheit. Und noch dazu möchte ein Reiher Mahito aggressiv in einen verlassenen Turm locken, in dem schon Teile seiner Familie mütterlicherseits verlorengegangen sind. Als seine schwangere Stiefmutter verschollen ist, folgt er ihr und kämpft sich mit dem Reiher als Verbündeten durch eine fantastische Welt, deren Geheimnisse es zu entschlüsseln gilt, in denen der damalige Faschismus Japans verhandelt wird und in denen die Versöhnung mit Familie und Welt lauert.

Der Zeichenstil hält diverse Neuerungen bereit. Vor allem einen gewissen Hang zum Flirren und Verschwimmen – am eindrucksvollsten im Brand, der die Mutter verschlingen wird –, was wohl auch daran liegt, dass Animation Director Takeshi Honda (u.a. Neon Genesis Evangelion) freie Hand von Miyazaki bekam. Ansonsten aber fühlen sich die Zeichnungen nach einer Heimkehr des Meisters an, der seinem Publikum gibt, was es verlangt. Wir haben ihn wieder, so wie wir ihn kennen.

Das Vergleichen mit früheren Filmen zeigt jedoch auch die Schwachstelle von Der Junge und der Reiher auf. Mahito als Hauptfigur ist im Vergleich zu anderen gesetzter. Von einigen Überreaktionen abgesehen, findet er sich ziemlich schnell im Märchenland zurecht, in dem er landet. Wundern tut er sich nur bedingt. Was den Effekt hat, dass der Film insgesamt etwas nüchterner wirkt.

Nur lächelnde Seifenblasen

Am deutlichsten wird das bei den mehr oder weniger obligatorischen putzigen Wesen, die fast alle Filme Miyazakis bevölkern. Selbst in einem grimmigen Werk wie Prinzessin Mononoke finden sich die Baumgeister, die klackend den Film mit grenzenloser Süße anreichern. Mit wenigen Strichen und reduzierten optischen Eigenschaften schuf Miyazaki immer wieder ikonische Figuren der Niedlichkeit. Hier gibt es nun die blasenförmigen Warawaras, die magisch gen Himmel fliegen, um zu Sternen und wiedergeboren zu werden. Sie sind zwar niedlich und so weiter – aber eben auch nur kleine Seifenblasen mit einem Lächeln. Im Gedächtnis bleiben sie kaum.

Vor allem aber ist spürbar, dass dies nicht das frischeste Werk Miyazakis ist. Dass dies ein Film ist, der anderen Filmen (Totoro oder Chihiro) ähnelt und deshalb nicht einzigartig ist. Der auch nicht an diese heranreicht. Es ist schlicht der Fluch einer Filmographie, der hier zur Geltung kommt: Neben all diesen Türmen zu Babel wirkt noch das höchste Hochhaus etwas mickrig. Womit wir bei der Klasse von Der Junge und der Reiher angekommen sind, denn selbstredend ist dieser kein Reinfall. Seine Qualitäten finden sich nur eben bei seinen ganz spezifischen Eigenschaften und nicht bei den bekannten Charakteristika Miyazakis.

Die Welt kippt ins Garstige

Zunächst ist Der Junge und der Reiher als Gleichnis viel offener und ambivalenter als vorherige Filme (Nausicaä oder Mononoke). So finden sich immer wieder die Bilder von Massen, die Mahito verschlingen wollen – wie ein Schwarm Kröten, in den Mahito einmal fast verschwindet und die ihn wohl in die Parallelwelt des Turms entführen wollten – oder die den Frieden bedrohen wie die gleichgeschalteten, fleischfressenden Sittiche, die im Turm nach einer xenophoben Machtausübung drängen. Darüber hinaus ist es aber der Wille nach Gleichgewicht und Ausgewogenheit, nach einem schlussendlichen Zustand der Welt selbst, dem der Keim der Zerstörung innewohnt. So beschweren sich die Pelikane, sobald sie als Bösewichte etabliert sind, dass sie nicht anders können, als die Warawaras zu essen, weil ihnen in dieser artifiziellen Welt, in der sie gefangen sind, nichts anderes als Nahrung zur Verfügung steht. Gerade weil hier jemand eine optimale, bessere Welt schaffen möchte, kippt diese ins Garstige.

Was den Film jedoch am meisten bestimmt, ist die Anlehnung an den Symbolismus des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Wenn Mahito in der Welt innerhalb des Turms angelangt, dann findet er sich recht schnell auf einer Insel wieder, die verdächtig Arnold Böcklins Die Toteninsel ähnelt. Die Welten, durch die er in der Folge wandert, entsprechen durchaus dem in Heidelberg verliebten Steampunk, der so oft bei Miyazaki zu finden ist, aber mehr als sonst wirken die Bilder und Orte symbolisch überladen. Sie streben nach tiefgreifender Bedeutung, nach Schönheit, nach erhabener Fremdheit. Wie die Stilrichtung, die sich zeitlich und inhaltlich zwischen Romantik und Surrealismus verorten lässt, strebt Der Junge und der Reiher nicht einfach nur nach einer psychologischen Kommunion mit der Welt und dem Frieden mit sich, sondern nach dem Erlebnis, dass sich hinter dieser Realität mit dem richtigen Gespür noch viel anderes erblicken lässt.

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