The Big House – Kritik
Lehre und Forschung: Filmstudenten denken über Direct Cinema nach und machen direkt mal Kino. Über ein Stadion, in das die gesamte Einwohnerschaft der Stadt passt, die es beheimatet. Über sein Drumherum. Und, natürlich, über Amerika.

Mit einer Kapazität von 107.601 Plätzen ist es das zweitgrößte Stadion der Welt, dieses Michigan Stadium in der Universitätsstadt Ann Arbor, das auch „The Big House“ genannt wird, und deshalb heißt dieser Film so, denn es geht einzig und allein um dieses Stadion. Das Stadion ist Sujet, Ausgangs- und Endpunkt, und an diesem Ende, da greift dieser Film, der sich ansonsten dem Ungefiltertheitsdiktum des Direct Cinema verschrieben hat, dann doch mal ganz direkt ins Bild ein und zeitraffert eine Vogelperspektiven-Einstellung auf einen ganz normalen American-Football-Tag. Das ist ein schöner und passender Schlusspunkt, weil dieses Zeitraffer-Bild zwar ein Kollektiv erschafft, aber ein sehr abstraktes und ein sehr bewegtes, ohne Subjekte, ohne Disziplin. Mit nichts als Bewegung füllt sich die Schüssel, und wenn die Schüssel gefüllt ist, dann spielen sich weitere Bewegungen in ihrer Mitte ab, auf dem Rasen, Choreografien mit Cheerleadern, und schließlich das Match selbst, komische Schwärme, von links nach rechts und zurück, ein merkwürdiges, ein schönes Bild.
Das Spektakel und seine Voraussetzungen

„The last time the stadium hosted fewer than 100.000 fans was in 1975“, diese Information geht The Big House voraus, und es ist eine leicht verstörende Information, bedenkt man, dass es sich hier nicht einmal um professionellen Sport handelt – das Stadion beherbergt kein NFL-Team, sondern die College-Football-Mannschaft der University of Michigan. Dass die 14 Teilnehmer des von den Regisseuren Kazuhiro Soda, Markus Nornes und Terri Sarris geleiteten Filmseminars am Department of Screen Arts and Culture beim Thema Direct Cinema auf die Idee gekommen sind, sich dieses große Haus mal näher anzugucken, überrascht also nicht. Und dass sie da zwischen dem Spektakel und seinen Voraussetzungen, zwischen Cheerleadern auf dem Rasen und Spülhilfen in der Küche, zwischen Cappy tragenden Trainern auf Pressekonferenzen und der leitenden Notärztin, zwischen Last-Minute-Tickets-Verkäufern und Jesusfreaks auf dem Weg zum Stadion so einiges finden werden, das ist auch klar. Das Sujet ist ein Magnet, und ein gefundenes Fressen.
Das große, gelbe M

Das gelbe M der Michigan University dient The Big House als ein weirdes Wasserzeichen, es prägt den ganzen Film, ob pompös an Stadionfassaden angebracht oder als Logo auf Mützen, Schals und Shirts, und sieht es nicht aus wie ein etwas geraderes, weniger beschwingtes McDonald’s-M? Klar: Nicht nur die direkten Ausschüttungen, auch die metaphorische Dividende ist bei so einem Projekt von vornherein erwartbar, und natürlich finden sich hier laufend Motive, die das Große im Kleinen zu spiegeln scheinen, in denen „Michigan Stadium“ und „Amerika“ auf einmal austauschbar sind. Ein großes Haus, in das die Leute geradezu pilgern, in dem sie mit ihrem gelben M mitfiebern, aber eben auch: Welche Leute eigentlich? Ein Haus auch, in dem Schwarze vor einem weißen Publikum und einer weißen Presse von links nach rechts gescheucht werden, während irgendwo in den Katakomben eine working class für den reibungslosen Ablauf des Ganzen sorgt?

Aber der Symbolcharakter wird dem Film niemals aufgezwungen, dafür ist The Big House doch zu sehr seinem beobachtenden Gestus verpflichtet. Wenn sich hier die unheilvollen Vorzeichen zu verdichten scheinen – der Film ist während des Wahlkampfs 2016 gedreht worden –, wenn über dem Stadion ein Flugzeug mit einem Banner „Chinese Americans for Trump“ fliegt, wenn ein afroamerikanischer Footballer in Nahaufnahme auf dem Boden kniet, wie als Vorgeschichte zum großen Showdown zwischen dem späteren Präsidenten und jenen NFL-Spielern, die dem Vorbild Colin Kaepernicks gefolgt sind und sich zur Nationalhymne hingekniet haben, dann wird damit weniger ein mittlerweile öffentlicher Diskurs mit ins Boot geholt als dieser Diskurs in seiner Materialität sichtbar gemacht, in seinem Gewordensein und in seiner Verankerung an sehr konkreten Orten. Überhaupt ist The Big House ein im besten Sinne materialistischer Film, einer, der das Material der Idee stets vorzieht.
Aufruf zum Filmen

Natürlich ist die Vorstellung der Filterfreiheit eine Schimäre, natürlich wird hier nichts direkt vermittelt, sondern ist ausgewählt, weggeschnitten, zusammengefügt, kreiert worden. Wichtiger aber ist: Was bei uns ankommt, ist keine narzisstische Einladung zum Konsum dieser Bilder, sondern ein Aufruf zur fortwährenden Filmproduktion. Mit „Observational Film #8“ ist The Big House unterschrieben, also machen wir doch gleich mal weiter. Die Kraft, die hinter den Bildern spürbar wird, scheint jedenfalls nicht aus dem Drang entstanden, ein Kunstwerk zu erschaffen, sondern überhaupt erst mal etwas zu sehen, zu filmen, einzufangen, zu sammeln. So zeichnet The Big House weniger am großen Bild Amerika, als dass er eine komplexe Zeichnung bildet. Und damit ist vielleicht auch das Schlussbild am besten beschrieben, dieses abstrakte Gewusel, dieser merkwürdige Organismus mit einem unverständlichen Spielgeschehen als Zentrum, den Massen an den Rändern und einer unsichtbaren, unheimlichen Maschine irgendwo da drunter, dahinter, daneben. Ist das Amerika, oder sähe ein solches Bild des größten Stadions der Welt vielleicht genauso aus? Das steht jedenfalls in Pjöngjang.
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