The Assassin – Kritik

VoD: In seinem ersten Wuxia-Film erzählt Hou Hsiao-hsien von einer innerlich zerrissenen Killerin und hört dabei der Welt beim Atmen zu.

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Jedes Genre weckt gewisse Erwartungen. Auf eine simple Formel heruntergebrochen heißt das: Wer lachen will, sieht sich eine Komödie an, wer weinen will, ein Melodram. Wenn das Eingeforderte dann enttäuscht wird, fühlt man sich als Zuschauer manchmal betrogen. Wie produktiv jedoch das Spiel mit den Erwartungen – mit ihrer Erfüllung ebenso wie mit ihrem Bruch – ausfallen kann, beweist Hou Hsiao-hsien. Schon seit acht Jahren hat der taiwanesische Regisseur kein Projekt mehr realisiert. Jetzt überrascht er mit seinem ersten Wuxia-Film im Wettbewerb von Cannes. Das vielleicht populärste Genre des chinesischsprachigen Kinos ruft sofort Bilder von sausenden Schwertklingen und flatternden Gewändern wach. Müsste man seine charakteristischste Eigenschaft nennen, wäre es wahrscheinlich die Geschwindigkeit. Und dann kommt ein schwereloser Film wie The Assassin (Nie yin niang), der scheinbar das genaue Gegenteil ist: langsam und erstaunlich statisch. Doch tatsächlich ist auch er bewegt – nur auf eine andere Weise. Man hört den Wind durch die Blätter rauschen, sieht Tücher, die sich sanft in ihm wiegen oder in der Dunkelheit tanzende Flammen. Manchmal ist es sogar nur das, worauf sich der Film konzentriert. Dann halten die Figuren plötzlich inne und konzentrieren sich scheinbar ganz auf das Atmen der Welt. 

Mehr als tausend Dialoge

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Den westlichen Betrachter hindert eigentlich nur eines daran, sich ganz dem sanften Fluss von The Assassin hinzugeben: die Fülle an Informationen aus dem China des späten 9. Jahrhunderts, mit der wir erst durch eine Einblendung und später noch durch einige Dialoge konfrontiert werden. Im Grunde genommen reichen aber die zentralen Informationen, um den Film aus der späten Tang-Dynastie im Kern zu verstehen: Yinniang (Shu Qi) wurde von ihren Eltern einst im Wald ausgesetzt und ist dabei in die Arme der Nonnenprinzessin Jiaxing (Sheu Fang-Yi) geraten, die sie zur Killerin ausgebildet hat. Schon früh zeichnet sich dabei der Zwiespalt ab, der das Leben von Yinniang bestimmt. Einerseits soll sie gut geölte Kampfmaschine sein, andererseits kann sie sich nicht von ihren menschlichen Empfindungen lösen. Nachdem ein Auftrag an ihren Zweifeln scheitert, muss sie sich ihrer härtesten Prüfung stellen: Sie soll Tian (Chang Chen), den Anführer des Weibo-Clans, töten – ausgerechnet jenen Mann, dem sie als Mädchen versprochen wurde und für den sie noch immer etwas empfindet.

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Im Drehbuch von Hous Stammautorin Chu T'ien-wen ist durchaus Stoff für ein melodramatisches Historienepos angelegt. Der Zugang des Films ist aber ein ganz anderer. Während er seine Handlung in wenigen, dafür aber umso sorgfältiger komponierten Tableaus arrangiert, nähert er sich den Figuren und ihren Gefühlen nur sehr zaghaft. So gibt es zum Beispiel eine Szene, in der sich die Heldin in den Palast von Tian einschleicht und ihn heimlich bei einem intimen Moment mit seiner Konkubine beobachtet. Eigentlich will Yinniang ihn töten, aber sie zögert. Hou nimmt das in einer halbnahen Einstellung auf, von der wir nur ihr Gesicht sehen, das immer wieder von wehenden Vorhängen verdeckt wird. Und obwohl scheinbar nichts in diesem Bild passiert, wird es von einer Anspannung beherrscht, die mehr sagt als tausend Dialoge. 

Abgebrochene Duelle

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Die wenigen Kampfszenen inszeniert der Film auf ähnliche Weise. Egal ob er sie aus nächster Entfernung zeigt oder aus großer Distanz, stets ist es das Wesentliche, das sich dem Auge entzieht. Zwei Duelle werden sogar auf ihrem Höhepunkt abgebrochen, worauf sich die Kämpfenden einfach umdrehen und in verschiedene Richtungen abziehen. Und das ist auch das Faszinierende an The Assassin – dass er kein Heroic Bloodshed zeigt, sondern Gewalt als unnötige, ja ermüdende Form der Konfliktbewältigung inszeniert. Elegant weicht er den Schlüsselelementen des Genres aus und findet auf diesen Umwegen immer wieder etwas, das mindestens genauso interessant ist wie ein dynamisches Gefecht. Das können Ziegen sein, die friedlich im Dreck liegen, Vater und Sohn, die mit einem Schmetterling spielen oder die Nebelschwaden auf einem See.

The Assassin funktioniert überhaupt in erster Linie durch seine wunderschönen Bilder. Auf einen Prolog in Schwarzweiß folgt ein virtuoses Spiel mit leuchtenden Kostümen und irrealen Farbverfremdungen, die dem Film eine geradezu impressionistische Qualität verleihen. Und auch das Format ändert sich mehrmals, wobei das Bild nur in einer scheinbar unbedeutenden Szene ganz in die Breite geht. Dabei ist Yinniangs Mutter zu sehen, wie sie ein mehrmals im Film zitiertes Lied über einen Hüttensänger intoniert. In der Tang-Dynastie galt der Vogel als Glückssymbol und Bote der Göttin Xi Wangmu, die wiederum die Patronin für jene Frauen war, die sich außerhalb traditioneller Geschlechterrollen bewegten. Für Hou ist das ein interessantes Detail, weil er sich offensichtlich sehr viel mehr von der zurückhaltenden Empfindsamkeit der weiblichen Figuren angezogen fühlt als von dem ungezügelten Temperament Tians. Dementsprechend verleiht Hou seiner Heldin dann doch noch etwas Heroisches. Nicht, weil sie eine gute Kämpferin ist, sondern weil sie sich letztlich der Gewalt verweigert.

Der Film steht bis 07.04.2024 in der Arte-Mediathek.

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