Tatort: Ich hab im Traum geweinet – Kritik

Der Tatort in seinem jetzigen Format bietet einen Schutzraum, der uns auf angenehme Distanz hält. Jan Bonnys Ich hab im Traum geweinet bricht diese unsichtbare Mauer.

Ich hab im Traum geweinet gewandet sich als klassischer Whodunnit – auf der Suche nach dem Täter. Die Tötung ist hier allerdings als Auslassung arrangiert. Erst im Geständnis erhält der Mord einen textlichen – keinen visuellen – Raum. Das Geständnis ist neben dem Verhör eines der zentralen Elemente im Kriminal- und Polizeifilm. Insbesondere im Kino, etwa im Policier, findet Letzteres regulär Anwendung. Claude Millers Garde à vue (1981), dessen Titel man mit Staatsgewahrsam übersetzen könnte, hieß in Deutschland direkt Das Verhör. Netflix hat in der multinationalen Konzeptserie Criminal (2019) das Verhör zum Modus Operandi erhoben. Und selbstredend verfügt auch der Tatort (seit 1970) über ein nicht unerhebliches Reservoir an Verhören. Zuvorderst Dominik Graf hat in diesem Rahmen immer wieder geografische und psychologische Parameter dieses dialogischen Duells ausgelotet.

Sakraler Hauch des Geständnisses

Über die längere, größere und reichhaltigere Fernsehgeschichte verfügt allerdings das Geständnis. Beides ist naturgemäß nicht ganz auseinanderzudenken, steht das Schuldeingeständnis doch aus Ermittlersicht im Idealfall am Ende der Befragung. In Formaten von Der Kommissar (1969–1976) über Derrick (1974–1998) bis hin zum Tatort gibt es allerdings eine deutliche Tendenz zur Entkopplung. Die rationalen, logischen und detektivischen Ermittlungen führen zu einem emotionalen Punkt, an dem sich die Täter geradezu zwanghaft offenbaren müssen. Häufig haucht dieser Moment etwas Sakrales und/oder Kathartisches. Die Rechtsprechung wird eins mit moralischer Einsicht oder gar dem Beginn der Läuterung.

Deutsche Fernsehkriminalspiele verstehen sich häufig ganz dezidiert als Moralfabeln. Der Kommissar reflektiert aus Position der Kriegsgeneration eine sich wandelnde Gesellschaft, sein Quasi-Nachfolger Derrick (beide aus der Feder Herbert Reineckers) taucht aus einer zur Kunstform zugespitzten Position der Neutralität in die bürgerlichen Abgründe zunächst der 1970er Jahre ab. Der Tatort blickt in dieser Tradition immer geradezu explorierend auf den Nerv seiner Zeit. Ich hab im Traum geweinet kombiniert dabei die Studie eines bürgerlichen Milieus mit Motiven des Großstadtreißers. Was nicht nur ästhetisch zu einer überraschenden Bilderreise führt. Das nicht weniger als bahnbrechende und abgrundtief erschütternde Geständnis löst sich hier von einer moralischen Logik. Die Tat durchleben wir als eine alternativlose Notwendigkeit. Schuld ist zu diesem Zeitpunkt kein Element der Gleichung.

Spiegelkabinett potenzieller Täter

In diesem Moment – aber schon viel früher in Ich hab im Traum geweinet – geschieht etwas dem aktuellen Tatort originär Fremdes: Die Figuren kommen uns nah. In seiner derzeitigen Konzeption bietet das Format eigentlich einen Schutzraum. Kunstfiguren wie Thiel und Boerne empfangen uns in einem ästhetisch, narratologisch und moralisch sehr eng gesteckten Rahmen, der uns stets in angenehme Distanz zum mal ulkigen, mal skurrilen, mal dramatischen, aber letztlich nie tragischen Geschehen auf der Scheibe versetzt. Selbst gegenüber dem zunächst viel spannenderen Kosmos eines Murot – dem paradigmatischen Experimentierfeld der Reihe – bleibt diese Distanz intakt.

Ich hab im Traum geweinet bricht diese unsichtbare Mauer. Seine Figuren werden – etwas pathetisch formuliert – zu Menschen. Ihre Fehler lösen beim Zuschauer kein Fremdschämen, sondern eine eigene Scham aus. Die handelnden Personen entbehren nämlich aller Künstlichkeit, sie könnten unter uns sein, kommen uns bekannt vor in ihrer Provinzialität und Instabilität, spiegeln uns.
Das beginnt beim Ermittlerpaar Tobler und Berg, das durch die badische Fasnet aka Fassnacht taumelt. So von den eigenen Problemen gelenkt, dass ein klarer Blick auf den doch so eindeutigen Fall nie zustande kommt. Entsprechend sind es auch keine Ermittlungen oder Verhöre, die zur Conclusio führen. Der Film arrangiert ein Spiegelkabinett an potenziellen Tätern, die sich final an Geständnissen überbieten – ganz ohne Input der Kommissare.

Deren Handlungsstrang spiegelt vielmehr das Drama um die fragile Familie von Romy, Hans und dem kleinen – vermutlich nicht gemeinsamen – Sohn. Schönheitsarzt Hans ist seiner heutigen Mitarbeiterin und früheren Escortdame Romy verfallen. Beider Bedürfnisse liegen schmerzhaft weit auseinander. Romys Versuch eines erfüllten Familienlebens in der bürgerlichen Provinz ist so aussichtslos wie die Bemühungen des tumben Berg, zum Frauenversteher zu mutieren. Romys Existenz ist die ständige Fassnacht – unkontrolliert, rauschhaft, taumelnd. Mit dem Eindringen zweier früherer Kunden in ihre neue Existenz mündet der Balanceakt zwischen Familienleben und Fassnacht im freien Fall.

Konzentrierter Blick auf das Gebilde Deutschland

Regisseur Jan Bonny hat im Tatort-Gegenentwurf Polizeiruf 110 mit Der Tod macht Engel aus uns allen (2013) und Das Gespenst der Freiheit (2018) gleich zwei Klassiker gedreht. Seine Ani-Verfilmung Wir wären andere Menschen war im vergangenen Jahr eine kleine deutsche Festivalsensation, und seine in Locarno uraufgeführte NSU-Fantasie Wintermärchen ist aktuell sechsmal für den Preis der deutschen Filmkritik nominiert. Wintermärchen und den Tatort eint Heine, hier als Titel und musikalisches Leitmotiv in der Schumann-Bearbeitung. Das Signal ist deutlich: Jeweils wird ein ernsthaft konzentrierter Blick auf das Gebilde Deutschland gerichtet. Selbst wenn es dabei eine konkrete Vorlage wie im Fall des NSU gibt, stellt sich doch vielmehr immer die Frage nach der Logik sozialer Handlungsprozesse in einem konkreten Gesellschaftskontext.

In Bonnys Filmen brauchen keine Maaßens, Höckes oder Kemmerichs aufzutauchen. Seine Filme transportieren den Geist ihrer Zeit und was er bewirkt. Bei Menschen, die gewissermaßen aus der Mitte herausgerissen oder in ihr gefangen sind. Eklatant ist dabei die aufrichtige Nähe zu diesen Figuren. Vom Tatort sind wir eine solche Brechung der Distanz nicht gewohnt. Hinter Fall und Thematik berühren uns die Protagonisten. Wenn das geschieht, aus einem Blick auf Gesellschaft und Zeitgeist heraus, kann Zeitloses entstehen. Der an Klassikern verhältnismäßig armen Reihe ist dies in der Vergangenheit unter der Regie Dominik Grafs und mit der Figur Schimanski gelungen. Der Über-Tatort ist vermutlich Wolfgang Petersens Reifezeugnis (1977). In dessen Tradition ist Ich hab im Traum geweinet zu lesen. Ein Tatort, der bleiben wird.


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