Tarnation – Kritik
Jeder Mensch ist ein Filmemacher, jedes Leben ein Film. Jonathan Caouette legt uns in seinem Erstlingswerk sein Leben zu Füßen und beeindruckt.

Im April kommt nun endlich der in Cannes bereits 2004 gefeierte, experimentelle Dokumentarfilm Tarnation von Jonathan Caouette in die deutschen Kinos. Als erster Spielfilm, der komplett mithilfe von iMovie montiert wurde und mit angeblich nur 220 Dollar Herstellungskosten direkt in die Top Ten der preiswertesten Filme der Geschichte einsteigt, verunsichert er Kritiker und Kinogänger über seine Genrezuordnung. Aber auf jeden Fall innovativ und ungewöhnlich präsentiert Tarnation in alter Cinéma Vérité Manier ein Potpourri aus optischen und akustischen Versatzstücken des Lebens seines Machers. Dabei montiert der Regisseur altes super8 Material, Fotos aus dem Familienalbum, Film- und Fernsehausschnitte mit auf Tonband rezitierten Gedichten oder seiner Lieblingsmusik zu einer Collage, welche Bild für Bild das Leben des Jonathan Caouette und seiner Familie ergibt.
Ausgelöst durch eine lebensgefährliche Lithium-Überdosis seiner Mutter sieht sich der Regisseur gezwungen an den Ort seiner Kindheit zurückzukehren. Von dort aus erzählt er chronologisch die schicksalhaften Ereignisse seiner eigenen Geschichte. Demnach begann das tragische Schicksal seiner Mutter - und somit auch seines - damit, dass sie, nachdem sie als junges Mädchen aufgrund eines Unfalls über Jahre mit Elektroschocks behandelt wurde, schwere physische Störungen entwickelte, welche sie bis heute pflegebedürftig machten. Nach einer Passion weiterer traumatischer Erfahrungen, deren drastischste wohl die Vergewaltigung der Mutter vor den Augen ihres Sohnes im Kleinkindalter war, wuchs Jonathan, ohne seinen Vater je kennen gelernt zu haben, unter der Fürsorge seiner bemühten, aber überforderten Großeltern auf. Dem nicht genug, litt er aufgrund des unwissentlichen Konsums von in PCP und Formaldehyd getränkten Joints von klein auf an Konzentrationsschwäche und lebte fortan in einem traumartigen Zustand der Entfremdung von seiner Umwelt.

In diesem Alptraum von Leben gefangen, begann der Zehnjährige sich zu emanzipieren, indem er alles um sich herum dokumentierte. Über all die Jahre filmte, interviewte, fotografierte er Freunde und Familie, zeichnete ihre Gespräche und Geräusche auf. Infolgedessen archivierte, aber insbesondere verarbeitete er somit sein Schicksal. Mit atmosphärischer Indie-Musik unterlegt, montierte er diese Zeugnisse seiner Vergangenheit nun zu einem abendfüllenden Film, der vor Referenzen an die POP Kultur nur so strotzt.
Tarnation zieht neben der ganzen Tragik seine Faszination zum großen Teil aus den erschreckend intimen Einblicken, die uns der Filmemacher in seine Privatsphäre gewährt. Die Situationen, in die er seine Mitmenschen vor der Kamera bringt, haben nahezu den Charakter von therapeutischen Sitzungen. So forciert er, beharrlich auf der verzweifelten Suche nach der Wahrheit seines Lebens, immer wieder Konfrontationen mit seiner Mutter oder befragt den Großvater zu dessen fatalem Fehlurteil in der medizinischen Behandlung der eigenen Tochter.
Zu den eindrucksvollsten Szenen des Films zählt eine Aufnahme des elfjährigen Jonathans, in der er, eine misshandelte und verfolgte Frau darstellend, vor der Kamera weint und jammert. Spätestens bei diesem Anblick wird man sich der dünnen Grenze zwischen brutaler Realität und reflektierender Inszenierung im Leben des Regisseurs bewusst. Diese Ungewissheit, inwieweit die gezeigten Ereignisse im Film wahre Begebenheiten darstellen oder der Kreativität und Fiktion des Künstlers zuzuschreiben sind, bleibt im gesamten Film bestehen. Ob beispielsweise Gespräche so wirklich stattfanden, ob die Anwesenheit der Kamera diese nicht beeinflusste oder ob Auftritte nicht sogar komplett inszeniert wurden, sind Fragen die auch in Tarnation unbeantwortet bleiben. Erst der Zusatzkommentar von Caouette auf der DVD klärt, dass es sich bei einzelnen Szenen durchaus um arrangierte und frei interpretierte handelt.

Die verwerteten Bilder zeugen jedoch von solcher Authentizität, dass es beim Schauen schwer fällt, sich von ihnen zu distanzieren und ihre Verbindlichkeit in Frage zu stellen. Überdies werfen sie, durch die Art ihrer Darbietung sowie die unentschiedene Erzählweise von Caouette bedingt, eine deutende Perspektive auf die berichteten Ereignisse. Beständig oszillierend zwischen dem Erzählen in der ersten oder dritten Person plus der Verfremdung des Bildmaterials durch Vervielfachung und allerlei anderen optischen Tricks - wie Spiegeleffekte, Flicker, Split Screens - erfahren die Bilder ebenfalls eine Distanz zur Realität. Auf diesem gestalterischen Umweg nähern sie sich wiederum sehr den gelebten Tatsachen ihrer Protagonisten und werden somit zu Sinnbildern ihrer Seinszustände.
Beim Anblick dieser tragischen Schicksale erwartet man Hass dem Leben gegenüber zu verspüren. Tatsächlich durchzieht Tarnation aber eine Grundstimmung der Versöhnung, als könne sich Caouette durch die Verarbeitung der Bilder von denselben befreien, die Gespenster der Vergangenheit in den Film verbannen. Demgemäß endet dieser auch mit einem sehr friedlichen Bild, ein poetisches Zitat Warhols, dem des schlafenden, über alles geliebten Menschen, engelsgleich.
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