Tardes De Soledad - Nachmittage der Einsamkeit – Kritik
Amoralisch, surrealistisch, spektakulär: Albert Serra experimentiert in seinem Stierkampf-Film Nachmittage der Einsamkeit mit den Möglichkeiten des dokumentarischen Kinos – und geht an die Belastungsgrenze seines Publikums.

Direkt mit den ersten zwei Szenen von Nachmittage der Einsamkeit (Tardes de soledad) zwingt uns Albert Serra in eine unbehagliche Zwischenposition: Zuerst schaut die Kamera einem schwer schnaubenden Stier frontal ins tiefschwarze Gesicht. Danach – offenbar nach einem aufreibenden Kampf – sitzt ein in Schweiß gebadeter Matador im Bus, wiederum direkt vor der Kamera. Fast gleicher Abstand, fast gleiches Framing. Ein Tier- und ein Menschenkopf.
Aber es ist nur eine Scheinopposition, die durch die parallelen Einstellungen so perfide wie gekonnt hergestellt wird: Der Mensch, das ist Andrés Roca Rey, offenbar ein Shootingstar der Stierkampfwelt (von der ich keine Ahnung habe), der sich auf seiner Webseite als Stilikone inszeniert und auf seinem Instagram-Profil als „Künstler“ bezeichnet (was mich befremdet). Der Stier aber ist nur irgendein Stier – einer von vielen, die im Laufe des Films von Roca Rey gedemütigt, vorgeführt, getötet werden. Individuum gegen Bestie, Einzigartigkeit versus Type. Um diese asymmetrische Dialektik des Stierkampfspektakels hat Albert Serra einen nervenaufreibenden, manchmal schwer aushaltbaren, manchmal begeisternden Film gebaut.
Konzentration und Geduld

Serra geht dabei mit extremer visueller Konzentration vor. Nachmittage der Einsamkeit besteht größtenteils nur aus einer Handvoll an Bildtypen: Statisch aufgenommene Fahrten im Mannschaftsbus, Halbtotalen in Umkleidekabinen und Hotelzimmern und ansonsten hochdynamische Zoom-Schwenk-Abfolgen bei den Kämpfen in den Arenen. Die zermürbenden rituellen Tiertötungen werden dabei oft aus großer Nähe, ebenso detailverliebt wie ausdauernd eingefangen. Im Zentrum stehen Andrés Roca Reys tollkühne Performances. Als Referenz kann man an die hyperpersonalisierte Sportbeobachtung in Zidane: A 21st Century Portrait (Douglas Gordon, Phillippe Parreno, 2006) denken. Formal ist Nachmittage der Einsamkeit so konsequent, so geschlossen, dass ich erst einige Zeit brauchte, um zu akzeptieren, dass hier der dokumentarische Modus vorherrscht. Das da ist kein Stuntman. Der steht da wirklich, ein paar Zentimeter neben den messerscharfen Stierhörnern. Und die Tiere, die sterben in echt.
Beredt ist dabei auch, was Serra nicht zeigt: Auch wenn wir es unentwegt hören, so ist das Publikum in der Arena fast nie zu sehen. Keine aufgerissenen Augen, wenn Jubel aufbrandet, keine vors Gesicht geschlagenen Hände, wenn es vor Schreck aufjauchzt. Serra gibt uns, den Filmzuschauenden, keine Stellvertretenden, keine Avatare. Wir sind gezwungen, unsere eigene Haltung einnehmen.
Er setzt dabei auf die für ihn seit jeher charakteristische, manchmal nahezu penetrante inszenatorische Geduld. Mir fällt dazu der englische Begriff „to linger“ ein, der sowohl eine zeitliche als auch eine mnemonische Konnotation hat: Serras Blick „lingers“, er trödelt, verweilt – oft länger, als ich es wollen würde, manchmal zu lange, als dass ich es aushalten könnte. Aber dadurch bleiben die Bilder in meinem Kopf hängen, „they linger“. Unentwegt schaut die Kamera hin, quälend ausdauernd. Die Inszenierung nähert sich dadurch formal der Ritualhaftigkeit des Gezeigten an: Für einen in Sachen tauromaquia Ahnungslosen wie mich zeigen sich erst nach und nach die Routinen und die wiederkehrenden Muster in der gekonnten Zermürbung der Bestie.
Surrealistischer Todesreigen

Roca Rey, und mit ihm der Film, halten sich unentwegt in der Nähe des Todes auf. Aus dieser Nachbarschaft zum Existenziellen zieht Nachmittage der Einsamkeit seine dunkle, mitreißende Kraft. Es ist der Sog eines der wohl ursprünglichsten aller Spektakel, verboten und faszinierend zugleich: Der Kampf bis auf den Tod. Mit modernsten Kameratechniken und hoher formaler Reife schlägt Serra damit Brücken in die Frühgeschichte des Kinos, als Dokumentation und Spektakel oft Hand in Hand gingen. Nachmittage der Einsamkeit ist eine sinnliche und somatische Extremerfahrung, wie sie im Kino mittlerweile sehr selten geworden ist. Es ist Filmemachen nach der Logik: „high stakes, high rewards“. Ein Kino, das ins volle Risiko geht: Der Film ist (tier-)ethisch unerträglich, aber zum Fingernägelkauen spannend.
Diese amoralische Todesnähe hat noch einen zweiten Effekt, der aus der surrealistischen Tradition bekannt ist: durch sie entsteht ein Überfluss an Symbolik. Prosaische Details werden aufgeladen mit dunkler kultureller Bedeutung. Artur Torts Kamera verweilt besonders gern und lange auf extravaganten Stoffen, Mustern, Kleidungsstücken. Sie wirken zeichenhaft und überdeterminiert innerhalb des grausamen Kontexts, in dem sie erscheinen. Das tiefdunkle Tierblut auf dem reinweißen Jackett, die zartrosa Seidenstrümpfe, auf denen sich allmählich der staubige Dreck der Arena ansammelt, die extravaganten Paillettenverzierungen, die von Hörnern zerrissen werden. Überall Zeichen der Unbeflecktheit, die besudelt werden. Ich denke an Georges Batailles surrealistische Erzählung „Geschichte des Auges“, bei der auch ein Stierkampf im Zentrum steht und sich die fiebrige Überspanntheit der Hauptfiguren in einem Reigen aus Sex, Ekel und Blut entlädt.
Die grenzenlose Grausamkeit der Menschen

Fratzenhaft begegnet uns in Serras überhitzter, thanatos-gesättigter Welt aus Tier und Tod eine quasi keine Grenzen kennende Grausamkeit der Menschen. Die berittenen Picadores haben laut klingende metallene Steigbügel, mit denen sie die Stiere wahnsinnig machen. Ihre fuchsiafarbenen capotes und tiefroten muletas jagen die Tiere in einem berauschenden Fest aus Stoff und Farbe bis in die Erschöpfung. Die Toreros locken sie mit beleidigenden Rufen in alle Richtungen zugleich. Und dann, natürlich, die mit zunehmender Kampfdauer immer exaltiertere Performance des Matadors Andrés Roca Rey; seine Grimassen, seine extravaganten Posen, die triumphierenden Gesten. In einem barbarischen, umgekehrt proportionalen Verhältnis erscheint er desto blasierter, je näher die Tiere ihrem Ende kommen. Er zieht Energie aus ihrem qualvollen Sterben. Und er erniedrigt sie bis über den Tod hinaus.
Nach dem tödlichen Stoß mit dem Degen, der estocada, straft er das in konvulsiven Zuckungen sterbende Tier mit Missachtung. Es ist keines Blickes würdig. Er schaut nicht hin, wie dem Stier von einem puntillero mit einem kleinen Dolch (der puntilla) ins Gehirn gestochen wird, wie sich seine Augen wild in ihre Höhlen drehen, wie der noch bebende Körper an Fleischhaken gebunden und von Pferden am johlenden Publikum vorbei durch den Staub der Arena gezogen wird. Serra allerdings schaut hin und zeigt uns diese erbärmlichen letzten Momente der Stiere. Wieder, und wieder, und wieder.
Der Existenzialismus des Matadors
Selbst später noch, während der Heimfahrt nach dem Kampf, schleudert Roca Rey den lange schon toten Stieren Beleidigungen hinterher: „Der Bastard wollte einfach nicht in die Knie gehen!“ Um ihn herum überhäufen ihn seine Toreros wie Claqueure mit derbsten Lobpreisungen: „Was für ein Mann! Was für gigantische Eier!“
Aber Roca Rey scheint abseits der Arena oft wie taub zu sein und in einer eigenen Sphäre zu schweben. Serra hat zwar offensichtlich ein hochgradig ambivalentes Verhältnis zu seiner Hauptfigur, aber eines hat er erkannt: Roca Rey ist larger than life, er ist wie gemacht fürs Kino. Man könnte so eine Person, ihr Gebaren und ihre Manie, nur schwer erfinden. Bei aller ihm beständig attestierter, hypersexualisierter Männlichkeit ist er auch extrem androgyn: Er zwängt sich ständig in die extravagantesten, engsten Kostüme, in der Arena plustert er sich weniger testosteron-muskelstark denn aristokratisch-gockelhaft auf, vor allem aber umgibt ihn – der ständig dem Tod entgegentritt, der dreimal im Film auf die Hörner genommen und fast getötet wird – eine fast mystische Tiefe. Immer wieder scheint er mit starrem Blick in eine hermetische Innerlichkeit abzudriften, aus der manchmal kurze Sätze des Zweifels die Anfeuerungen seiner Entourage durchkreuzen: „Ich hatte Glück, dass ich nicht getötet wurde.“ Roca Rey scheint unablässig mit den Stieren zu ringen. Auch und vor allem abseits der Arena.
Das Tier lässt uns allein

Vielleicht denkt Roca Rey in solchen Momenten ähnlich wie Friedrich Nietzsche oder Werner Herzog: Das Schweigen des Tieres steht der menschlichen Sprache nicht entgegen, sondern spiegelt sie. Die Beleidigungen der Toreros über die ehrlosen, schwachen, erbärmlichen Stiere treffen auf kein Gegenüber, bleiben unwidersprochen. Und auch Serra tut uns nicht den Gefallen, innerhalb des Films einen Einspruch zu formulieren. Wir sehen keine Tierrechtsgruppen, niemand übt sichtbar Kritik an der Praxis des Stierkampfs. Das Tier selbst wird ohnehin nie antworten, es bleibt unergründlich. So finden die Menschen in ihm – wenn sie denn suchen und seinem Schweigen zuhören – nichts als die eigenen Abgründe.
Das erklärt dann auch für mich den Begriff der „Einsamkeit“ im Filmtitel: Gebadet im tosenden Applaus der Menge, angefeuert von den Obszönitäten seiner Crew, steht Roca Rey nur dem Schein nach zusammen mit dem Stier in der Arena. Denn in Wirklichkeit steht er dort immer ganz allein. Wenn die Stiere sich in irgendeiner Weise rächen können für die ihnen unentwegt angetane tödliche Gewalt der Menschen dann nur, indem sie eben niemals aktiv Rache üben. Sie bleiben für immer störrisch, unbewegt, leidenschaftslos – und machen dadurch deutlich, dass der Kampf Matador gegen Stier eben kein Duell ist, sondern reine menschliche Aggression. Die Stiere zeigen keine Wut, keine Gefühle. Wie sollten sie auch? Da ist nur der starre leere Blick auf den Mann mit dem Säbel und dem roten Tuch, der vor ihnen steht und sich aufplustert. Und der irgendwann zusticht, um sich endlich nicht mehr in ihren Augen spiegeln zu müssen.
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