Sworn Virgin – Kritik
Sex ist wie der Wind auf dem Berg: Laura Bispuri betreibt Körperarcheologie dort, wo das meiste schon gefunden ist.

Boys don’t cry: Wenn jemand in einem albanischen Bergdorf stirbt, stehen die Männer um die Leiche, die in einem offenen Sarg auf dem Boden aufgebahrt liegt. Sie brüllen ein „Ho-ho-ho“ und performen dabei eine Art Totentanz, der sie zur Leiche niederbeugen und wieder aufrichten lässt, als wolle man dadurch den Tränenreflex aus dem Körper schütteln, als wolle man sich selbst beweisen, dass die Stimme noch intakt ist. Erst wenn sich die Herrengesellschaft selbst als solche bewiesen hat, darf (weiblich) getrauert werden, dann dürfen sich die Angehörigen hinunterwerfen und die Frauen dürfen laufen lassen. Schlecht steht es um die Männer bestimmt, die ihren Körper knechten müssen. Schlechter aber noch ergeht es den Frauen, die abseits der Tränenautonomie keine Souveränität genießen. Dem Mann müssen sie gehorchen und bedingungslos zustimmen, sie dürfen keine Waffen tragen und keine Pferde reiten; bei Ungehorsam werden sie erschossen und zwar mit der Kugel, die der Vater dem Schwiegersohn als Aussteuer anheim gibt. Boys don’t cry, but girls don’t do anything, so das Gesellschaftsprinzip in albanischen Berggemeinden. Möglichkeiten dieser Unfreiheit zu entfliehen gibt es genau zwei: die Flucht aus der Gemeinschaft und die Flucht aus dem Körper. Lila (Flonja Kodheli) wählt den ersten Weg, Hana (Alba Rohrwacher), ihre Stiefschwester, den zweiten.
Zerrissen Lebendiges und auf ewig Erstarrtes

Für die Mannwerdung gibt es ein Zeremoniell, und das heißt: auch eine gewisse Akzeptanz. Die Männlichkeit ist in dieser Welt zu heilig, als dass man ihrem sakrosankten Prinzip die Vermehrung versagen dürfte: Frauen dürfen also Männer werden; Frauen dürfen frei werden, um der Männlichkeit willen. Mann wird man, indem man die Brüste abbindet und die ewige Jungfräulichkeit schwört; und, indem im Beisein der Gemeinde feierlich der Pferdeschwanz abgeschnitten wird. Was muss im Inneren einer solchen Frau vor sich gehen, worin wird sie stark sein und worin schwach, und was geschieht, wenn die Körperlichkeit einfällt und dem Schwur in den Nacken springt? Laura Bispuri möchte in diese Fragen ebenso tief eindringen wie in den Verfahrenskatalog eines dieser Fragen angemessenen Arthousekinos. Das Kino selbst tendiert zur Antwort auf die Fragen, die es stellt. Welcher Körper ist gemeint, wenn die Kamera ihrer Figur nachhechtet und das Bild schlingern lässt? Welcher Körper ist gemeint, wenn aus dem Tiefschnee das Gebirgsmassiv emporragt. Zerrissen Lebendiges und auf ewig Erstarrtes – eine solide poetische Erkenntnis, und dennoch kann man sie kaum abfeiern: Dass Bispuri vor lauter achtenswerten Fragen an die Weiblichkeit keine Frage an das Kino stellt, verdammt die Weiblichkeit selbst zur ephemeren Randerscheinung.
Körperarcheologie

Wie sich Sex anfühle, fragt Hana ihre Schwester, als sie in Mailand nach neuem Leben, das heißt: nach ihrem Körper sucht. Man sei ganz in und ganz außer sich, antwortet Lila. „Ah, wie der Wind, der oben auf dem Berg weht“, fasst Hana verständig zusammen. Natürlich, das ist mit Abstand die missglückteste Drehbuchzeile, dennoch ist sie symptomatisch für einen Form von Kino, die den Körper in seiner elementaren Ursächlichkeit ertasten will und dabei in die immer gleichen Forschungsräume vorstößt: in das Hallenbad, in die Umkleidekabine, vor den Schminkspiegel, in die öffentliche Toilette. Dass uns Bispuri den Penis zeigt, bevor sie – erst gegen Ende, das natürlich die Enträtselung des Körpers in Aussicht stellt – den Busen ins Bild lässt, wirkt angesichts ihrer Einfallsarmut geradezu vulgärprogressiv. Eine Körperarcheologie, die vor dem Pissoir beginnt, an dem der Bademeister (Lars Eidinger) lehnt, der Kamera zugewandt, und in die Schwimmhalle führt, in der die nackte Haut, zumal die tätowierte, arglos, fast herablassend exponiert wird.
Erkennen und Beherrschen

Kunstschwimmerinnen müssen ihren Körper kennen, mehr noch: Sie müssen das Material ihrer Kunst beherrschen. Geradezu aufdringlich zirkuliert ein Großteil des Films um eben diese Frage. Die ehrgeizige Katarina (Ilire Celaj) verkörpert sie durch ihre Unzufriedenheit über die eigene Leistung im Becken. Sie könne dafür gut die Luft anhalten, beruhigt die ahnungslose Hana, der es um die Beherrschung noch lange nicht gehen kann, die noch in den verdunkelten Regionen der Erkenntnis tappt. Bispuri gelingt es kaum – weder durch ihren Common-Sense-Symbolismus noch durch die dramaturgische Aufgliederung in Gegenwart und Rückblenden, zwischen denen das dramatische Kondensat verdichtet werden will – diese Körperarcheologie zu jener Existenzfrage zu erheben, die sie anvisiert. Ihre Vision vom Kino, von der Bereitschaft des Mediums, auf Fragen zu antworten, geht kaum über den schützenden Impuls hinaus. Ein Schutz, der Hana gewährt wird, durch den sie vorsichtig ihre ersten Schritte gehen kann, der ihre weiblichen Regionen verbirgt, bis diese erkannt werden, der sie stets im Bild behütet, sie niemals hinauswirft aus den Regionen, in denen das Licht brennt. Ein Schutz, der auch Selbstschutz ist, der das Medium nur in jenes Gelände entlässt, in dem die Sicherungsseile bereits gespannt wurden, auch wenn sie dort für ganz andere Expeditionen eingerichtet wurden.
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