Swimming Out Till the Sea Turns Blue – Kritik
Jia Zhang-kes neuer Dokumentarfilm Swimming Out Till the Sea Turns Blue erzählt im effizienten Takt von den Wandlungen der chinesischen Provinz – und vergisst in der Eile, eigenständig zu sein.

Der Blick fällt auf Skulpturen: Gesichter, gemeißelt in Stein, junge Gesichter, meist mit offenem Mund, geformt zum kämpferischen Schrei, der Körper dynamisch in Szene gesetzt. Die agilen, slicken, kraftvollen Schübe der Kamerabewegung bringen die Vitalität jedenfalls nochmal auf den Punkt, ehe Jia Zhang-Kes neuer Film Swimming Out Till the Sea Turns Blue auf die nächste Szene umschneidet: Senioren bei einer Essensausgabe, und der Blick wieder auf ihre Gesichter fixiert. Tiefe Falten sind da zu sehen, jede Regung, jedes Lächeln, jeder Blick bringt neue zum Vorschein. Langsame Bewegungen sind es, die der Kamerablick verfolgt, Bewegungen, die vielleicht früher mal agil waren, nun sogar noch langsamer wirken als die starren Steinkörper vorher – Bewegungen, die in die Jahre gekommen sind.
Zeit brauchen, ohne sie zu haben
Das Vergehen der Zeit ist ein großes Thema des Films: Zeitlichkeit steckt in seinem Titel, eine Entwicklung will er erzählen, vor allem die des ruralen Chinas der 1940er Jahre über Kulturrevolution und modernisierende Reformen hinweg bis heute. Zu Beginn berichtet da etwa einer der Senioren von kaum fruchtbarem, alkalischem Boden, von einer Hungersnot, und dann von einer langsamen Heilung des Landes über die Jahre hinweg, die auch das vorher karge Liebesleben wieder hat erblühen lassen („Couples formed everywhere!“).
Zeitliche Abstände bestimmen denn auch die Auswahl der Perspektiven. Drei Autor*innen und die selbsterzählte Geschichte ihrer biografischen und literarischen Verbindung zur Provinz stehen im Mittelpunkt von Jias Film: Jia Pingwa, geboren in den 1950er Jahren, Yu Hua, geboren in den 60er Jahren, und Liang Hong, geboren in den 70er Jahren. Viel Zeit brauchen sie, um anekdotisch von der Zeit selbst zu erzählen, von den sozialen, demografischen und kulturellen Wandlungen Chinas, vom eigenen emotionalen Verhältnis zur Provinz, Herkunft und Familie, von ihrer eigenen Entdeckung der Literatur und ihrem Werdegang als Autor*innen – und gemessen an dem, was da zur Sprache kommen soll und was da alles mitschwingen kann, hat der Film selbst kaum Zeit für sie übrig.
Enge Taktung

So ist Swimming Out Till the Sea Turns Blue vor allem ein eng getakteter Film: getaktet von Musik (von Schostakowitsch und Beethoven über „Time to Say Goodbye“ bis hin zu „Nessun Dorma“), von insgesamt 18 Kapiteln – ein paar davon gerade mal einminütige Montagesequenzen –, getaktet aber besonders durch den Schnitt, der ungeachtet des Bildes effizient voranschreitet. Privilegiert in den Talking-Heads-Erzählungen werden die Wörter, die Informationen über einen geschichtlichen Wandel in den Anekdoten. Denkpausen gibt es selten, und sobald sie drohen, wird auf die nächste Sprechpassage gewechselt. Einmal erzählt Liang dabei von dem Verhältnis zur eigenen verstorbenen Mutter, die einen Schlaganfall hatte (was der Tochter zufolge ziemlich häufig in provinziellen Gegenden passiert) und zu der sie ihr emotionales Verhältnis bis heute kaum in den Griff kriegt. Ein Lachen versucht immer wieder Tränen zu unterdrücken, und als es das nicht mehr schafft, die Gefühle einer lebenslangen Auseinandersetzung mit der familiären Herkunft langsam so schön wie sonst nie ins Bild rücken, da folgt der Schnitt auf den nächsten Gesprächsabschnitt.
Und dennoch ist Swimming Out Till the Sea Turns Blue begeistert von den literarischen Ergebnissen dieser einzelnen Lebensgeschichten, von den Beobachtungen, die sie zustande bringen und denen vor allem eine jahrelange, ausgiebige Auseinandersetzung mit der Provinz anzumerken ist. Immer wieder lässt Jia Sätze daraus in die Kamera sprechen und danach noch einmal in Lettern auf der Leinwand erscheinen. In einem Zitat von Liang etwa wird einmal über eine kleine Beobachtung lange Zeit nachgedacht, über einen Schweißfleck auf einem weißen Hemd. Jias Film weiß dann aber nicht mehr damit anzufangen, als kurz das Bild eines solchen Hemdes zu zeigen, das im Baum vor einer alten Hütte hängt, es dann schnell wieder verschwinden zu lassen und weiter voranzuschreiten. Eigentlich ein Moment, der der Literatur etwas hinzufügen, eine ganz eigene Wirkung entfalten könnte, in dem der Film vielleicht selbst ein Gefühl für das jahrelange Entdecken einer Provinz finden könnte, das in den Erzählungen der Autor*innen so deutlich wird – aber so etwas braucht nun mal seine Zeit.
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