Strike or Die – Kritik

Die Kraft ist noch da. Mit rastloser Bewegung sucht Jonathan Rescignos Dokumentarfilm Strike or Die nach den Spuren eines lothringer Arbeiteraufstands der 1990er-Jahre – und findet in sich verausgabenden Ehestreits und phänomenalen Kirmes-Besuchen geheime Verbindungen in die Gegenwart.

Und plötzlich ist da eine Szene aus der Gegenwart, ist da ein naturgewaltiges Boxtraining: Schreie, Schläge, Schnaufen; schweißnasse, muskulöse, kräftige Körper. Aber nicht einfach ins Bild gesetzt, sondern ganz direkt spürbar. Ein Bild, das sich verausgabt, aus dem die Energie wie aus allen Poren fließt, das sich im Kinoraum ausbreitet und ihn auflädt. Eben war da noch die Vergangenheit, war da noch ein nicht minder kraftvoller Arbeiteraufstand: flirrende Videobilder und laut knallender Widerstand gegen Polizeimassen, gegen Rauch- und Nebelwände, gegen die Prekarität in den 1990er-Jahren. Massen drängen sich im Raum, Massen stoßen gegeneinander, geraten in Konflikt, reißen Mauern ein, lassen Fenster zerbersten, schreien sich an, werfen Steine. Ein revolutionärer Fiebertraum.

Über Generationen abgeflossene Energie

Zwei Szenen, zwei Zeiten, zwei Gegenwartsentwürfe geraten zu Beginn von Jonathan Rescignos Strike or Die aneinander, reiben sich, finden dann zusammen in einer elektrisierten Bildlichkeit. Energie geht niemals verloren, sie wandelt immer nur ihre Form, das sagt ein physisches Gesetz, das ist Prinzip dieses Films. Rescigno geht es um die Suche nach diesen neuen Formen, um die Suche nach vererbten Kräften, die hier im französischen Lothringen einmal ganz anders aussahen, als es hier noch Minenarbeiter, noch einen Kampf gab. Bildliche Spuren dieses Aufstandes werden im Laufe des Films in den Blick gerückt: Geschrei, Gebrüll, laute Stimmen werden immer wieder auftauchen, aber vor allem ein Nebel, der die Bilder langsam füllt, der alles geisterhaft bedeckt, in die Interieurs dringt, so als würde die Vergangenheit die Gegenwart heimsuchen, wieder Kontakt mit ihr aufnehmen, weil dieser Kontakt schon lange verloren ist. Strike or Die erzählt den sozialen Wandel eines Industriegebiets als eine verlorene Verbindung, als die Geschichte einer Energie, die abgeflossen ist. Die Kraft ist noch da, dieser Film macht sie spürbar, aber sie ist nicht mehr die gleiche, hat den Bereich des politischen Kampfes verlassen und ist in die Freizeitgestaltung verschwunden: von der Straße zum Boxtraining, von der Öffentlichkeit in die Privatssphäre.

Phänomenaler Kirmes-Besuch

Konkret findet Strike or Die diese Umformungen in seinen Protagonisten. Da ist ein mittelaltes Ehepaar, das ihre Energie in einen andauernden Streit steckt, in ein verbales Fließen von Argumenten und Vorwürfen. Er hat eine Aussage seines Chefs unterschrieben, dass sein Arbeitsunfall nur ein Treppensturz war, hat die öffentliche Angelegenheit zum privaten Problem heruntergespielt und sie kann es nicht fassen, wirft ihm vor, nichts gegen die Ungerechtigkeit zu tun und er fragt sich, was man denn schon tun können gegen einen Chef. Und da sind zwei Jungs, um die 17 Jahre alt, der eine direkter Nachfahre eines nach Frankreich migrierten Minenarbeiters, dessen ganze Familie provinzbekannte Boxsportler waren. Sohnemann meldet sich auch zum Training an, der Trainer erkennt ihn nicht, aber erinnert sich noch an den Onkel: „Yeah, Khayer was a war machine.“

Mit diesen Jungs werden wir am meisten Zeit verbringen, hören wir Gangsta-Rap im Auto, gehen wir im Club tanzen und sind wir bei noch so einer verausgabenden Szene dabei, bei einem Kirmes-Besuch: Lichter blenden, plötzlich laute Bässe, Gelächter und Nebel. Junge Körper klettern auf Fahrgeschäfte, fahren durch die Geisterbahn, wir fahren mit, werden überfordert, ein Skelett blinkt, wieder Nebelschwaden, Gewehre schießen nur gegen den Schießstand, Rauch kommt trotzdem heraus, laut schreiend die zwei Jungs im Karussel und dann ganz erschöpft, mit Zuckerwatte und Liebesapfel auf dem Boden sitzend.

Rastlose Suchbewegung

Seine Protagonisten einmal gefunden, macht aber die Suche des Films keinen Halt, denn der will weiter drängen und mehr wissen, will die Energieumformungen tiefer ergründen. Einmal sind wir mit den Jungs in einem Museum, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, die historische Minenarbeit zu dokumentieren. Arbeiteranzüge hängen wie haufenweise Hautfetzen von der Decke: „It looks like people hanging“, sagt einer und damit ist eine tragische Erkenntnis verbunden: Die Arbeiterklasse, wie sie da in den Videoaufnahmen zu sehen war, sie ist verschwunden. Und mit ihr eine soziale Perspektive auf die Gegenwart: Über ehemaliges Bergbaugebiet wandernd, reden die Jungs über Zukunftspläne und über das neue Prekariat, über die Mühen einer postmigrantischen Identität auf dem Arbeitsmarkt: „You have to change your name“, ist die traurige Feststellung, aber eine Lösung wird nur individuell anstatt sozial gefunden: „When you're an Arab you have to work twice as hard.“ Ein vorauseilender Gehorsam, eine gelebte Selbstverantwortung spricht aus diesen Worten.

Reanimierende Agitation

Strike or Die macht uns zu scharfen Beobachtern solcher Ideologiebruchstücke. Sie hallen nicht zuletzt in den aufputschenden Motivationsansprachen des Boxtrainers nach: „Always look forward in life … and absolutely do not look behind you! The past is behind you!”, brüllt er einmal und da ist wieder diese verlorene Verbindung, die der Film vorher so schön beschrieben hat. Und natürlich belässt es ein so bewegter und bewegender Film nicht bei einer bloßen Gegenwartsanalyse: Die Sachverhalte filmisch zu organisieren, getrennte Fluchtlinien in der Geschichte als Problem zu konstatieren und dann mit der Idee eines generationenübergreifenden Energieflusses wieder zu vernähen, das ist nicht zuletzt auch ein direkter Eingriff ins Geschehen, ist ein eigener Versuch politischen Handelns. Strike or Die ist zugleich sinnliche Analyse und reanimierende Agitation.

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