Stranger Things – Kritik

Russen, Riesenspinnen, Rollenspiele, und mittendrin ein zweideutiger Satz: Versuch eines unnostalgischen Blicks auf die dritte Staffel der Eighties-Fantasie Stranger Things.

Den Nostalgiekram vielleicht mal vergessen. Kaum ein Text zu Stranger Things, ob nun wertschätzend oder verurteilend, der nicht vor allem darum kreist: die Netflix-Serie als Referenzmassaker, Spielberg-Pastiche, Eighties-Americana-Patchwork. Ist ja auch klar, alles voll davon. Nicht nur das ganze Temporalkolorit in jedem Bild, die popkulturellen Anspielungen, die tausend Milliarden zitierten Filme, eben auch die Leitmotive: Kinder, Aliens, Verschwörungen, Gut gegen Böse, Russen, Kaufhäuser. Und irgendwo immer der ja wirklich schönste aller Gegensätze: das Naivste, Kleinste, Bescheidenste gegen das Größtmögliche, ein Kind und die ganze Welt, Nichtigkeit und Kosmos. So begann diese Serie einst: Im Rollenspiel trifft man aufs ultimativ Böse, den Demagorgon, und die Würfel werden entscheiden, wie es weitergeht. Stranger Things ist, noch immer, dieser Würfelwurf. Wenn die Serie sich in dieser dritten Staffel ein wenig beliebig anfühlt, als wären Plotdetails nicht unbedingt wichtig, dann ist das durchaus konsequent. Ängste sind nicht plausibel, sie zu besiegen manchmal Sache des Zufalls.

Alles egal

Da gibt’s jetzt also unglaubliche Action und tatsächliche Russen, die ein geheimes Forschungslabor mitten in Hawkins, Indiana aufgebaut haben, da drin gibt’s wiederum diese verdammte offene Spalte, die dafür sorgt, dass die Welt von einer fremden Lebensform heimgesucht wird, die Menschenkörper besetzen kann, sie in einer großen Masse verschmilzt, zu einer riesigen Spinne wird, die verwundbar ist, aber nicht besiegbar, irgendwoher kommt, irgendwohin will. Man bekämpft sie mit Elevens (Millie Bobby Brown) Superkräften oder auch mal mit herkömmlichen Feuerwerkskörpern oder der Willenskraft Normalsterblicher, und dann verzieht sie sich, wird aber wiederkommen, wahrscheinlich auch in einer vierten Staffel.

Wie das Böse nun aussieht, wie es funktioniert, ob und wie es nicht nur Körper, sondern auch den Geist besetzt, das war mir gerade in dieser dritten Staffel zunehmend egal. Wichtiger sind mir die Leute, die jungen Freunde, die, man verfällt gar in Serienkritikkitsch, liebgewonnenen Figuren, die mit alldem klarkommen müssen, die ja gerade erst noch Kinder waren und jetzt auf einmal erwachsen werden müssen, die ihre Rollenspiele mit Würfeln langsam werden eintauschen müssen gegen die ungleich schwereren Rollenspiele ohne und sich dabei noch mit diesen ganzen stranger things rumplagen. Aber ist nicht genau das eine perfekte Umschreibung des Aufwachsens selbst: sich mit nochmals merkwürdigeren Dingen auseinandersetzen? Als wäre die gerade absolvierte Kindheit nicht schon albern genug gewesen, auf einmal erkennen, dass es nicht leichter wird, nicht weniger strange?

Das Kind als Werden

Kindheit als Weltbild, das gibt’s einmal in der Spielberg-Variante: Noch fasziniert sein vom Leben, sich noch einmal verstecken können vor seinen überall lauernden Schattenseiten, sich notgedrungen ein Floß bauen, wenn das Umfeld Schiffbruch erleidet, eher eine Jungsfantasie, Staunen über Stranges als Abwehrreaktion. Kindheit als Weltbild, das gibt’s aber auch in einer queeren Variante: die Unschuld als vorauseilend ungehorsames Vergessen jeglicher Schuld, jeglicher Regel, jeglicher Norm, die uns regieren will. Das Kind wird Junge oder Mädchen genannt, bleibt aber erst mal ein Neutrum, und die Kindheit ein Raum der Verspätung, wie Kathryn Bond Stockton das ausgedrückt hat, und auch Deleuze und Guattari hatten bereits insistiert: Das Kind ist immer ein Werden, kein Sein.

Ich erinnere mich an all das in einer absolut zentralen Sequenz von Stranger Things 3. Es ist eine der wenigen Szenen, in denen Will (Noah Schnapp), dieser einst herzzerreißend brüchige Junge, unbestrittener Protagonist der ersten Staffel, endlich einmal wieder im Zentrum steht. Seine Kindheit will er beschwören, noch mal Dungeons & Dragons spielen, noch mal Spielleiter sein, obwohl die meisten seiner Freunde gerade so blöd ins Pubertieren geraten, sein bester Freund Mike (Finn Wolfhard) ausgerechnet mit Eleven anbandelt, jenem mysteriösen, kahlgeschorenen Wesen, das einst dem unheimlichen Upside Down entsprang und erst allmählich zum Mädchen wurde.

Not yet or not at all?

Da ruft also Will in dieser Szene in der dritten Folge der dritten Staffel einen “day free of girls” aus, aber die Sache geht gehörig schief, die Freunde sind nicht bei der Sache, denken doch nur an ihre love interests, und als sie bemerken, dass Will daran komplett verzweifelt, ist es zu spät, den Rest an Freundschaft zu retten. Und dann gibt es diesen Moment zwischen Will und Mike, den beiden also, die sich in der zweiten Staffel einmal versprochen hatten “to go crazy together”, aber jetzt spricht Mike diesen bösen Satz aus: “It’s not my fault you don’t like girls.”

Es ist ein Satz, in dem die ganze grandiose Mehrdeutigkeit von Stranger Things ganz offen zutage tritt, weil man sich in diesem Satz ein “yet” dazudenken oder es bleiben lassen kann. Denn natürlich ist Will vielleicht einfach ein bisschen hinterher, ein Spätzünder, will noch nicht erwachsen werden, noch ein bisschen Rollenspiele spielen, und das wäre kein Wunder, schließlich war er eine ganze Staffel im unheimlichen Upside Down verschollen, und wir haben mit Mutter Joyce (Winona Ryder) um ihn gefürchtet. Aber vielleicht gibt es dieses “yet” auch gar nicht, vielleicht möchte Will ganz schnell erwachsen werden, aber nicht so, nicht auf diese Weise, nicht in dieser Ordnung, nicht mit diesen Codes, nicht mit diesen Regeln, nicht in dieser Pubertät.

Queerness statt Diversity

In der dritten Staffel, und natürlich wird hier schonungslos gespoilert, gibt es einen weiteren wunderschönen Moment, einen Moment, in dem der in der ersten Staffel noch blöd trottelige, mittlerweile aber irgendwie sweete Highschool-Jock eine recht konventionelle Ich-erzähle-dir-von-einem-Mädchen-in-der-dritten-Person-meine-aber-offensichtlich-dich-Liebeserklärung raushaut, die allerdings von der indirekt Angesprochenen nicht mit einem Ich-dich-auch beantwortet wird, sondern mit einem Coming-out. Und man findet nun tatsächlich unzählige diversityselige Artikel über diesen “Stranger Things führt endlich eine LGBQTI-Figur ein”-Moment, und dann aber auch einen, der völlig zu Recht erklärt: “Stranger Things Has Always Had a Gay Character: Will Byers.”

Die Sache aber ist: Es geht nicht um Identitäten oder sexuelle Orientierungen, es geht nicht um die Frage, ob denn nun wirklich und wie und warum und wann genau das klar war und ob das nicht eigentlich alles Quatsch ist. Es geht um die queerness der Kindheit und der Science-Fiction, um eklige Wesen, die Menschen verschmelzen, um Riesenspinnen und allerlei Kaulquappiges, um das Upside Down als eine andere Welt, eine Welt, die uns Angst macht und die wir begehren, eine andere Welt, in der die eine Welt egal ist, in der all das, was uns Angst macht und was wir begehren, tatsächlich passiert, eine andere Welt, die in der ersten Staffel Will geschluckt und gleichzeitig Eleven ausgespuckt hat. Und wahrscheinlich ist es also kein Wunder, dass es ausgerechnet diese Eleven ist, die mittlerweile mit Mike anbandelt, als wäre sie nur der Avatar, über den Will in dieser einen Welt mit seinem besten Freund auch so richtig zusammen sein kann, ohne verrückt zu werden, dieser einen Welt, die, wie es eine deutsche Punkrockband mal gesagt hat, zu wahr ist, um schön zu sein.

There are even stranger things

Es geht darum, dass diese eine Welt auch ganz anders aussehen könnte, upside down, dass es da draußen immer noch merkwürdigere Dinge geben wird als die, die sich so zu gehören scheinen: In einer scheinbar kontextlosen Szene der dritten Staffel sehen wir eine Familie, Vater-Mutter-Kind, auf dem höchsten Punkt einer Riesenradfahrt, während das angekündigte Feuerwerk dem Jahrmarkt seinen Höhepunkt spendet. Die Eltern sehen gebannt in die Funken, aber das Mädchen hat das Gefühl, dass die Bäume im nahe liegenden Wald sich merkwürdig bewegen, und so ist ihr das Feuerwerk egal. Da gibt’s Unheimlicheres und wahrscheinlich auch Schöneres.

Eine kleine Geste, die aber wichtig ist. Weil sie die Bewegung dieser ganzen Serie ganz beiläufig nochmals vollzieht. Eine Bewegung, die nirgends so deutlich ausagiert wird wie im grandiosen Ende der zweiten Staffel, als auf dem Schulball endlich alles zueinander zu finden scheint, so wie es sich gehört: Selbst Will bekommt hier irgendein Girl ab, und Eleven sieht endlich mal ein bisschen nach baldiger Frau aus. Es ist ein Ende, dessen Prom-Pathos man gut nostalgisch nennen könnte, würde es sich nicht noch einmal drehen, würde das ganze Bild nicht langsam kippen, als hinge es tatsächlich auf einmal an einer Klippe, sich komplett auf den Kopf stellen, upside down, und würde nicht dann dieses schaurige Krakenmonster über dem Abschlussball thronen, uns allein durch seine Anwesenheit versprechen: This is not the end, there are even stranger things. Zum Glück.

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Kommentare


Cornelia

Danke, Till Kadritzke, für diese wirklich wunderbare, klare, einfühlsame Besprechung dieser so klugen, wahrhaftigen, zeitgemäßen Serie - auf die die Welt wirklich gewartet hat (so wie ich persönlich auf genau so eine Kritik dazu).






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