Storm Children: Book One – Kritik
In seinem neuen Dokumentarfilm nimmt Lav Diaz die Folgen eines verheerenden Taifuns für die Kinder seiner Heimat in den Blick und führt uns offenen Auges in eine postapokalyptische Welt der Widersprüche.

„Storm Children“: Das meint die Kinder, die den Taifun „Haiyan“ im November 2013 auf den Philippinen überlebt haben. Die Bilder dieser verheerenden Naturkatastrophe gingen damals um die Welt: Millionen wurden obdachlos, Tausende getötet. Anibong, ein dichtbesiedelter Stadtteil an der Küste von Tacloban, der Hauptstadt der Provinz Leyte, wurde durch einige gigantische Frachtschiffe und Öltanker, die der Sturm an Land spülte, sogar fast komplett zerstört. Die Hälfte der Bewohner verlor dabei ihr Leben, zahllose Kinder wurden zu Waisen.
In seinem Dokumentarfilm Storm Children – Book One zeigt Lav Diaz, wie die fatal fehlgeleiteten Schiffe noch Monate nach dem Wüten des Taifuns mitten in Anibong stehen und längst feste Größen in dessen Topologie geworden sind. Viele der Bewohner sind inzwischen in ihr postapokalyptisch durchwühltes Viertel zurückgekehrt und haben aus Mangel an Alternativen damit begonnen, sich in provisorischen Verschlägen zwischen Ruinen und Schiffswracks so gut es geht einzurichten. Teil dieser Szenerie des Mangels und der Improvisation ist das geschäftige Treiben eben jener Kinder des Sturmes, die trotz der katastrophalen Umstände und der Versehrtheit ihrer eigenen Leben nicht aufhören Kinder zu sein. Diaz bleibt ihnen hartnäckig auf den Fersen, schaut ihnen beim Spielen, Arbeiten oder Rumlungern zu und gewinnt durch sie eine Perspektive auf das Leben nach der Katastrophe.
Die Prosa des Alltäglichen

Zwar setzt Diaz die Zerstörung, die der Taifun hinterlassen hat, ungehemmt ins Bild, doch ist sein Blick dabei immer auf die Prosa des Alltäglichen gerichtet, der pathetischen Poetik des Tragischen ausweichend. Er nutzt das emotionale Potenzial dieser Bilder nicht aus und macht einen großen Bogen um gängige Dokumentarfilmmodi. Lieber nähert er sich von den Rändern her und beginnt seinen Film mit sich minutenlang durch statische Einstellungen wälzenden Wassermassen. Woher sie kommen und wohin sie fließen, man kann es höchstens erahnen. Alles rauscht und prasselt. Ein endloser Strom an Treibgut wird vom Film in den Blick genommen, der schließlich an einer Brücke in einer nicht benannten Stadt ankommt. Ein Kind läuft ins Bild, zerrt einen großen Ast hinter sich her, watet durch den Müll im knietiefen Wasser und beginnt, darin ausgelassen zu lachen und zu spielen. Wenige Meter hinter ihm bahnt sich der Verkehr unbeeindruckt durch die dreckige Plörre.
Von Anfang an sucht der Film immer wieder solche Gegensätze und beschreibt durch innerbildliche Kontrastierungen die zutiefst widersprüchliche Normalität, welche die Filipinos gezwungen sind herzustellen: In eindrücklichen Totalen lässt Diaz die angespülten Stahlgiganten zunächst als dräuende Fremdkörper über zerstörte Stadtarchitektur ragen, zeigt aber eben auch, wie der Alltag sie zähmt, wie diese Schiffe umbaut, bemalt, bewohnt und schließlich von den Kindern bespielt werden. Denn während die Folgen der Katastrophe längst noch nicht beseitigt, geschweige denn überwunden sind, geht das Leben weiter – ob Frau, Mann oder Kind dazu bereit sind oder nicht, das spielt dabei kaum eine Rolle.
Ästhetik der Sparsamkeit

Diaz‘ nahezu störrisch duldsame Kamera gibt den Kindern im Bild in langen, statischen Einstellungen viel Freiraum, kann aber auch rasch in Bewegung gebracht werden, um an ihrem unvorhersehbaren Tun möglichst dicht dranzubleiben. Seine Ästhetik der Sparsamkeit scheut sich nicht vor harten Jump Cuts oder dem Zerren des Windes am Mikrofon der Kamera. Dazu passt, dass die einzelnen Szenen durch den Schnitt nur selten scharf umrissen sind, sondern einander überlappen, sich lose ablösen anstatt einander zu ergänzen. Es wird auch kaum geredet oder erklärt und nur wenig des Gesprochenen ist untertitelt. Eine der Ausnahmen ist ein Gespräch des Filmemachers mit einem der Kinder gegen Ende des Films. Der Junge erzählt dann zögerlich davon, welche Familienangehörigen seines jüngeren Freundes neben ihm durch die angespülten Frachter getötet wurden. Ansonsten verzichtet Diaz fast völlig darauf, seine schwarzweißen Bilder in einen informierenden Kontext zu stellen.
Stattdessen überlässt er es dem Zuschauer, genau hinzuschauen, dem Inhalt der langen Einstellungen selbst auf die Spur zu kommen. So sehen wir an einer Stelle des Filmes, wie ein Junge direkt neben einem der an der Küste gekenterten gewaltigen Frachter badet. Immer wieder verschwindet das Kind kurz unter dem Koloss, schwimmt entlang des Rumpfes, taucht wieder auf, lehnt gegen den Bug, taucht wieder unter. Dass die Kinder häufig nach Metall im Wasser suchen, um es dann gewinnbringend zu verkaufen, erfahren wir erst aus dem Gespräch gegen Ende des Filmes. Davon kann man hier noch nichts wissen. Was eigentlich Arbeit ist, sieht hier noch wie Spiel aus, als würde dieser Junge mit einem Stahltitanen rangeln.
Tobende Kinder des Sturmes

Immer mal wieder widmet sich Diaz auch den anscheinend nur sparsam betriebenen Aufräumarbeiten in der Stadt, über deren Hintergründe wir von Storm Children jedoch nichts erfahren. Hat man allerdings im Blick, dass die Arbeiten weniger aufgrund nicht vorhandener Mittel stocken, sondern eher aufgrund einer Familienfehde zwischen dem Bürgermeister von Tacloban, Alfred Romualdez und der Familie von Präsident Aquino, schwingt in diesen Bildern des Films eine stille Anklage mit. Storm Children konzentriert sich dabei ganz auf die Folgen für die Philippinen und nähert sich den Schicksalen ihrer Bewohner mit offenem Blick. Dabei erspürt er die komplexen Anforderungen, denen gerade die Jüngsten des Landes ausgesetzt sind – und findet für sie ein passendes Schlussbild: wild tobende Kinder, die eines der Frachtschiffe, das so viele von ihnen zu Waisen machte, als Wasserspielplatz umdeuten und sich aus schwindelerregender Höhe immer wieder mutig ins Meer stürzen. Dieses Bild steht minutenlang am Ende des Filmes und ist vieles – grausam und zynisch zuerst, dann aber auch sehr genau und zum Schluss auf paradoxe Weise vor allem eines: hoffnungsvoll.
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