Stories from the Sea – Kritik
Ein Frachter, eine Kreuzfahrt, ein hippiesker Segeltörn: Mit drei unterschiedlichen Schiffstouren durchmisst Stories from the Sea das Mittelmeer als poetischen und politischen Raum. Das Berliner fsk Kino zeigt den Film in seiner Reihe Dok-Termin.

Linien werden durchs Wasser gezogen. Erst ganz abstrakt im Vorspann als weiße Geraden auf schwarzem Grund. Danach dann auf einer nautischen Karte an Bord eines Frachtschiffs: von Salerno nach Marseille, von Marseille nach Barcelona, von Barcelona nach Castellón, von Castellón nach Casablanca. Und schließlich ganz real, wenn der Frachter tatsächlich eine akkurate Schneise hinter sich durch das Wasser zieht, die bis zum Horizont reicht, an dem das Festland längst nicht mehr zu sehen ist.
Das Mittelmeer durchmessen

Was am Anfang noch wie eine beiläufige Bildfolge aussehen mag, hat spätestens am Ende eine deutliche Metaphorik für das Programm von Jola Wieczoreks Film entfaltet: Innerhalb von drei Dokumenten der Seefahrt durchmisst Stories from the Sea das Mittelmeer als diskursiven und poetischen Raum. Dabei weiß Wieczorek, dass die Linien nur von ihren End- und Startpunkten her zu denken sind, die Poesie der Fahrt nur von ihren gesellschaftlichen Bedingungen her.
Da ist die junge Jessica, die als Auszubildende auf einem Frachtschiff arbeitet, weil ihr Seemanns-Onkel früher stets Souvenirs aus den entferntesten Ecken der Welt mitbrachte. Nun lernt sie das schwere Handwerk unter Männern und die Navigation, während die Filipinos um sie herum die Brücke putzen. Da ist die Rentnerin und Witwe Amparo auf einer Kreuzfahrt, die als spanisches Kind in Marokko aufwuchs und das Mittelmeer für eine Flucht in ihr Heimatland überquerte. Auf ihre Ankündigung, sie liebe das Reden, folgen die stillsten Minuten des Films. Und da ist ein zielloser Segeltörn mit jungen Menschen aus aller Welt, die ein „kulturelles Abenteuer“ erleben wollen. Spätestens aber, wenn hier die Insel Lampedusa passiert wird, stellt sich im Film die Frage, wem im gesellschaftlichen Machtgefüge solche transzendentalen Erfahrungen auf dem Mittelmeer überhaupt erlaubt sind.
Formen des Meeres als Formen der Macht

Immer wieder nehmen Wieczoreks große schwarz-weiße und grobkörnige Bilder das endlose Wasser selbst in den Blick. Das Meer gibt es hier aufbrausend, still, ruhig, schaumig, mit starkem und schwachem Wellengang. Stories from the Sea findet darin Bilder für die gesellschaftlichen Differenzen, die die maritime Erfahrung unterschiedlich und auf der Flucht oft auch schmerzhaft formen können. Obwohl das Festland oft nicht in Sicht ist, hat sich das soziale Netz längst auch über die hohe See gespannt und es mit seinen „polymorphen Techniken der Macht“ durchdrungen, wie Michel Foucault das einmal genannt hatte. Kein Zufall wohl, dass mitten im Film plötzlich ein Zitat des französischen Philosophen auftaucht, das der Möglichkeit neuer, politischer Fiktionen gewidmet ist: „Das Schiff ist das größte Imaginationsarsenal. In den Zivilisationen ohne Schiff versiegen die Träume, die Spionage ersetzt das Abenteuer und die Polizei die Freibeuter“, heißt es da.
Wieczoreks Film zu sehen bedeutet denn auch, so einer Umformung beizuwohnen: Stories from the Sea weicht die Verhärtung alter Erfahrung auf, stellt dem eine ästhetische Erfahrung entgegen, die der Möglichkeit neuer Fiktionen einen Ausdruck verleiht. Jessicas Rolle als einzige weiße Frau unter philippinischen Männern bei der schweren Schiffsarbeit würde sich nur allzu gut anbieten, um Formen der strukturellen Diskriminierung ins Bild zu setzen, wird dann aber mehr zur Geschichte von Freundschaft und Solidarität in der globalisierten Arbeitswelt. Wieczoreks ruhige Beobachtung einer einsamen Rentnerin auf Kreuzfahrt nimmt die naheliegenden ökologischen und kulturellen Konsequenzen des Massentourismus kaum in den Blick. Stattdessen folgt irgendwann eine tolle Szene, in der Amparo unter Frauen erzählt, wie sie ihrem Mann, einem Ex-Priester, das Sexleben zeigte. Das lange Schweigen einer Frau wird gebrochen, alte Geschichten bekommen einen neuen Ausdruck.

Und das angekündigte „kulturelle Abenteuer“ junger Menschen verschiedenster Kontinente auf zwei Segelschiffen „ohne Ziel, aber mit viel Zeit“ mag zuerst ein wenig hippiesk und realitätsfern klingen, ist als Dokument eines Austauschs verschiedenster Erfahrungen mit dem Meer aber die wohl politischste Story from the Sea. Einmal lernt da jemand das Schwimmen, das Wasser fühlt sich noch ganz unvertraut an. Am Ende wird dann tatsächlich jemand anderes sagen, dass diese Seefahrt ein früheres, schmerzhaftes Verhältnis zum Meer überschrieben habe. Wieczoreks anschließender Blick auf die noch bei größter Ruhe stets fluide, vor sich hin wabernde Wassermasse erinnert daran: Was einmal geformt wurde, lässt sich stets neu gestalten.
Der Film läuft am 10.04.2022 um 18:00 Uhr im fsk Kino und am 11.04.2022 um 18:00 Uhr im Bundesplatz Kino.
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