Spuren - Die Opfer des NSU – Kritik

VoD: Bäume, Tattoos und Gedenktafeln. Aysun Bademsoy geht in Spuren – Die Opfer des NSU von der Materialität der Erinnerung aus. Ihr Dokumentarfilm ist zugleich intimes Porträt und scharfe Medienkritik.

Ein Waldstück neben einer Autobahn bei Nürnberg. Die Sonne scheint. An einem Weg gießt ein Mann ein paar Bäume. Walnüsse wachsen an den Zweigen, und Äpfel, Kirschen, Zwetschgen, Maulbeeren. Er gieße die Bäume immer nach der Arbeit, erzählt der Mann. Er heißt Ali Toy, ist Blumenverkäufer und ehemaliger Mitarbeiter von Enver Şimşek, der am 9. September 2000 vom Nationalsozialistischen Untergrund, kurz NSU, ermordet wurde. Toy hat die Bäume nach Şimşeks Tod gepflanzt. Und während er da so nach den Pflanzen schaut, sie mit Wasser versorgt und sich selbst ein paar Kirschen in den Mund steckt, die Blätter im Sonnenschein leise rascheln, wird klar, dass diese Bäume ganz schön groß und kräftig sind. Der Mord an Şimşek ist mittlerweile fast 20 Jahre her.

Arbeit am Nicht-Vergessen

Es geht um die Materialität von Zeit, Gedenken und Trauer in Aysun Bademsoys Film. Spuren – Die Opfer des NSU heißt er schließlich, und er fragt, was übrig geblieben ist: von den Ermordeten und dem Schmerz ihrer Familien. Da sind die Sammlungen von Zeitungsartikeln, digitale wie analoge Fotos, die Gedenktafeln, das Tattoo auf dem Oberarm von Tochter Gamze Kubaşık, die Aufnahme von der Schweigeminute des Lieblingsfußballvereins. Da ist der Stern in Hamburg Altona, im Gehweg eingelassen wie beim Walk of Fame, mit dem Namen von Süleyman Taşköprü, der, wie sein Bruder Osman erzählt, großer Sylvester-Stallone-Fan war. Und immer wieder sind da Bäume, Schnittblumen, Trauerkränze.

Zentral aber bleiben die Erzählungen der Angehörigen über die Menschen, die im starken Kontrast zu den Tätern medial kaum in Erscheinung getreten sind. In Interviews, die sie auf deutsch und türkisch führt, gibt Regisseurin Bademsoy ihnen Raum, holt damit die Toten aus der Anonymität und ihrem Schlagzeilendasein, macht sie in ihrer Unterschiedlichkeit sichtbar. Bademsoys Film setzt damit gängigen Narrativen einer deutschen Medienlandschaft, die höchstens über ‚die Opfer’ spricht, etwas entgegen, auch indem er bestehendes migrantisches Wissen sichert und abspeichert. Anekdoten, Personal, Zeiten, Räume werden zusammengetragen, angesammelt, sorgfältig per Voice-over oder Einblendung sortiert: Nürnberg, München, Hamburg, Rostock, Dortmund, Kassel, Heilbronn.

Spuren – Die Opfer des NSU ist eine Arbeit am Nicht-Vergessen, intimes Porträt und Anhäufung von Material. Dabei bezieht die Filmemacherin selbst Position, benennt im Film die Motivation für das Projekt: nämlich das Gefühl, dass es stets auch die eigene Familie hätte treffen können, immer noch treffen kann.

Netzwerk mit Leerstellen

„Der NSU hat meinen Vater ermordet. Die Ermittler haben seine Ehre kaputt gemacht. Sie haben ihn damit zum zweiten Mal umgebracht“, sagt Gamze Kubaşık auf einer Pressekonferenz nach der Urteilsverkündung 2018 in München. Die Verwandten sprechen über falsche Verdächtigungen durch die Polizei, plötzliche Hausdurchsuchungen, die Konfrontation mit jenen abstrusen Thesen, dass die Ermordeten doch sicherlich Verbindungen zur Mafia oder in den Drogenhandel, vielleicht sogar zweite Familien gehabt hätten. Der NSU zeigt sich hier wiederholt als unabgeschlossener Komplex, als Netzwerk, das das bekannte Figurenpersonal Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos übersteigt. Die Strukturen, die ermöglicht haben, dass Angehörige kriminalisiert wurden, während sich eine neonazistische terroristische Vereinigung mordend durch Deutschland bewegen konnte, sowie die Rolle des Verfassungsschutzes und das Verschwinden von Beweismitteln sind noch nicht annähernd vollständig aufgedeckt. Beharrlich verweist Bademsoys Film über die Erfahrungsberichte der Angehörigen auf diese Leerstellen.

NSU-Filme und deutsche Erinnerungskultur

Spuren – Die Opfer des NSU lässt sich deswegen als logische Fortführung von Andreas Maus’ Der Kuaför aus der Keupstraße (2015) und Mala Reinhardts Der zweite Anschlag (2018) verstehen. Ausgehend vom Nagelbombenattentat in Köln am 9. Juni 2004 rückt Maus jene Unterstellungen der Polizei in den Fokus, die sich nach der Tat gegen die in der Keupstraße lebenden wie arbeitenden Menschen richteten. Der Kuaför aus der Keupstraße kontrastiert die durch Schauspielende nachgestellten Vernehmungsprotokollen mit Aufnahmen der groß angelegten Straßenfest-Gedenkveranstaltung 2014 „Birlikte – Zusammenstehen“. In Der zweite Anschlag wiederum übt Reinhardt Medienkritik und lässt Personen, die rassistisch motivierte Gewalttaten erlebt haben, über das Gefühl sprechen, nur bei Jubiläen von einer breiteren Bevölkerung und der Berichterstattung wahrgenommen zu werden. Beide Filme fragen danach, wie Erinnerungskultur in einer bundesdeutschen Mehrheitsgesellschaft organisiert ist und wer von welcher Form des Erinnerns profitiert.

In Spuren – Die Opfer des NSU geht es nun stärker um die Erschütterungen, die bleiben, im Hinblick auf Verluste geliebter Menschen wie die Hoffnung auf Gerechtigkeit. „Es ist eine Seite, die nicht zu Ende geschrieben ist“, sagt Elif Kubaşık einmal, als sie über den Mord an ihrem Mann spricht. „Ob du willst oder nicht, du bleibst verwundet zurück. Man sagt: Die Zeit heilt alle Wunden. Das stimmt nicht. Der Schmerz bleibt in mir.“ Es ist die große Stärke von Bademsoys Film dass er diesen Emotionen zum Ausdruck verhilft, die Trauer als Gefühl ernstnimmt. So laufen die Filme von Bademsoy, Reinhardt und Maus in dem Versuch zusammen, mithilfe der Konservierungsmaschine Kino die Erinnerungsarbeit zu unterstützen, die die Hinterbliebenen leisten. Schon wieder ein Baum, größer als der in Nürnberg. Diesmal steht er in einem kleinen türkischen Dorf. „Es ist sein Baum, er hat ihn gepflanzt“, spricht Tochter Semiya und meint dabei Enver Şimşek. „Der Baum ist voller Erinnerungen.“

Den Film gibt es in der Mediathek der Bundeszentrale für politische Bildung.

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