Sicko – Kritik
Glaubt man Michal Moores Abrechnung mit dem kränkelnden US-Gesundheitssystem, ist ein Häftling im Gefangenenlager von Guantanamo Bay medizinisch besser versorgt als ein Durchschnittsbürger in den Vereinigten Staaten.

Krank sein in Frankreich macht richtig Spaß. Eine von der Krankenkasse bezahlte Haushaltshilfe übernimmt das lästige Wäschewaschen, wenn man sie lieb darum bittet, sogar das Zubereiten des Abendessens. Fühlt man sich noch nicht fit genug für den Arbeitsalltag, spendiert die Versicherung einen Trip ins warme Südfrankreich, wo man sich sonnengebräunt auf einer Yacht räkelt, umgeben von attraktiven Frauen in knappen Bikinis. Kein Wunder also, dass die Franzosen im Schnitt drei Jahre länger leben als die Nordamerikaner, so das Fazit von Autor und Regisseur, Polemiker und Provokateur Michael Moore.
Krank sein in den Vereinigten Staaten macht nämlich weniger Spaß. In einer frühen Szene von Sicko näht sich ein Mann eine große Schnittwunde am Bein mit Nadel und Faden zu, weil er wie 50 Millionen andere US-Bürger nicht versichert ist. Und da Michael Moores Stil noch nie für das Subtile stand, fährt die Kamera so dicht wie möglich ran an die unappetitliche Wohnzimmer-Operation. Damit von Anfang an klar ist, dass sich der selbsternannte Robin Hood unter den Dokumentarfilmern nach Roger & Me (1989), Bowling for Columbine (2002) und Fahrenheit 9/11 (2004) in Sicko erneut auf die Seite des kleinen Mannes schlägt.

Einer hiervon ist Rick. Bei einem Unfall hat er sich Ring- und Mittelfinger abgetrennt und muss sich daraufhin aus Kostengründen entscheiden, an welchem der beiden er mehr hängt, beziehungsweise wieder hängen möchte: Das Annähen des Mittelfingers würde ihn 60.000 Dollar kosten, das des Ringfingers gäbe es schon zum Schnäppchenpreis von nur 12.000 Dollar. „Being a hopeless romantic, Rick chose his ring finger“, kommentiert Moore die bittere Qual der Wahl mit bedächtiger Märchenonkelstimme, deren Tonfall im folgenden Verlauf zwischen Betroffenheit und Sarkasmus pendelt.
Doch geht es dem Regisseur mit Entertainer-Ambition in Sicko weniger um die Amerikaner, die nicht versichert sind, als um jene 250 Millionen, die trotz zahlender Beiträge ungenügende oder gar keine Gegenleistungen von ihren Versicherungen erhalten. Die „persönlichen Horrorgeschichten“, die Moore größtenteils über das Internet zusammengetragen hat, bieten dann auch reichlich Anlass für Betroffenheit oder Sarkasmus: Eine Obdachlose wird mit gebrochenen Rippen aus dem Krankenhaus in eine Pension abgeschoben, weil sie ihre Rechnung nicht bezahlen kann. Eine andere Frau muss nach einem Autounfall die Ambulanzkosten aus eigener Tasche bezahlen, da sie ihrer Versicherungsgesellschaft nicht schwer verletzt und kurz vor der Bewusstlosigkeit mitgeteilt hat, ärztliche Behandlung zu benötigen.

Populist, der er ist, holt sich Moore grundsätzlich Themen vor die Linse, die seinen Landsleuten laut Umfragen am akutesten unter den Nägeln brennen. Das David-gegen-Goliath-Motiv findet sich in sämtlichen seiner „nichtfiktionalen Filme“, wie er sie bezeichnet. Der Amerikaner von nebenan war in seinem Debüt Roger & Me Opfer von Massenentlassungen, in Bowling for Columbine das einer Gewalt verherrlichenden Kultur und in Fahrenheit 9/11 das eines inkompetenten George W. Bush. In Sicko bestreitet der kleine Mann nun einen ungleichen Kampf gegen die Geldgier von Versicherungen, Pharmaindustrie und bestechlichen Politikern, die ihn mittels mangelhafter medizinischer Versorgung buchstäblich (ver-)bluten lassen.
In den Interviewsequenzen tritt Moore als Davids solidarischer Mitstreiter und mitfühlender Kumpel auf. Neutralität ist für ihn ein Fremdwort, Sympathien werden unmissverständlich verteilt. Sein Erzählprinzip ist stets das einer Montage der extremen Gegensätze: In Roger & Me filmt er wohlhabende Golfer, die sich abfällig über Arbeitslose äußern und schneidet anschließend zu einer Familie, die ihre Miete nach der Entlassung nicht mehr bezahlen kann und vor die Haustür gesetzt wird. In Bowling for Columbine folgt auf eine Rede des Waffenbefürworters Charlton Heston vor der „National Rifle Association“ die Ansprache eines Vaters, dessen Sohn beim Schüler-Amoklauf an der Columbine High School gestorben ist. In Sicko turteln verliebte Pärchen zu „Je t’aime“ in Pariser Parks, bis in der nächsten Szene Aufnahmen von Ghetto-Bewohnern in Los Angeles mit melancholischer klassischer Musik unterlegt werden.

Zugunsten von massentauglichen Pointen und spektakulären Stunts mit Moore als Leading Man kommt es schon mal vor, dass ihr Macher Fakten verkürzt oder verdreht darstellt und Szenen inszeniert statt dokumentiert. Oder er lässt Informationen, die seinen Thesen widersprechen, schlicht unter den Schneidetisch fallen: Kuba wird für seine günstigen Medikamente im Vergleich zu den USA gepriesen, dass es dem Inselstaat aber nicht selten an wichtigen Arzneimitteln mangelt, wird verschwiegen. Als Zuschauer von Sicko tut man sich deshalb vermutlich einen Gefallen, das Gezeigte mehr als kurzweiliges Vergnügen denn als verlässlichen Tatsachenbericht zu betrachten. Trotz trauernder Angehöriger, die wie in Columbine und Fahrenheit dazu gebracht werden, Tränen in Nahaufnahmen zu vergießen, ist Moores Keule gegen das US-Gesundheitssystem in erster Linie unterhaltsam und weniger aufrüttelnd oder aufklärend. Komplexe Hintergründe oder differenzierte Zusammenhänge blendet er fast vollkommen aus.
Nach der deprimierenden heimatlichen Bestandsaufnahme ist das lustige Krankenhaus-Hopping, das der Regisseur in England und Frankreich, Kanada und Kuba betreibt, zwar amüsant, es führt aber lediglich zu der einseitigen Schlussfolgerung, dass andere Nationen alles besser machen. Und dass die Kubaner gar nicht die Feinde der Amerikaner sind, sondern hilfsbereite Menschen, die man knuddeln möchte und denen man die Hand zur Versöhnung reichen sollte. Wie Kuscheln mit Kubanern zu einer Gesundheitsreform in den USA beitragen soll bleibt allerdings Michael Moores Geheimnis.
Neue Kritiken

Mein 20. Jahrhundert

Caught Stealing

Wenn der Herbst naht

In die Sonne schauen
Bilder zu „Sicko“




zur Galerie (4 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Dimikus
Wenigstens traut er sich was dagegen zu sagen!
Fakt ist das Amerikanische Gesundheitssystem ist ein debakel! Und er macht das als einziger jetzt Public! Mag sein das nicht alles stimmt aber im Vergleich zu den anderen Ländern is Das System in Amerika einfach grauenhaft!
Ferrero
Natürlich polemisiert, provoziert und übertreibt Michael Moore. Und das ist auch richtig so.
Sonst würden Dinge, die mal gesagt werden mussten/müssen weiterhin unter den Tisch gekehrt.
Wer mit vergelichsweise geringen Mitteln gegen Mißstände antritt hat jede Unterstützung und Symphatie verdient. Denn: Mag auch nicht alles nach Rezept gekocht sein was Mr. Moore auf den US-Thanksgiving-Dinner-Tisch knallt: Im Kern ist es die Wahrheit.
2 Kommentare