Sibel – Kritik
Der brutale Traditionalismus eines Dorfes und eine Ausgestoßene als ruhelose Mischung aus Bäuerin und Girl Scout: Wie toll wäre es, würde Sibel sich daraus zu einem Rape-and-Revenge-Film entwickeln.

Im Bergdorf Kuşköy nahe der türkischen Schwarzmeerküste existiert seit Jahrhunderten eine sehr seltene Form der Kommunikation. Die Pfeifsprache oder die Vogelsprache, wie sie dort genannt wird, ist eine erstaunlich nuancierte Übersetzung der Vokabeln und grammatischen Formeln des Türkischen in Tonhöhen und Melodien. Ihre Entstehung verdankt die Pfeifsprache vermutlich der Tatsache, dass sich das Pfeifen gut über große Distanzen überträgt. Zwar gibt es dort mittlerweile Mobilfunkverbindung, aber die bleibt unzuverlässig.
Sibel got a gun

Kuşköy ist auch der Schauplatz des letzten von aktuell drei gemeinsamen Filmen von Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti, einem türkisch-französischen Autoren- und Regieduo. Im starken Gegensatz zu der sprachlichen Besonderheit dieser filmisch vermittelten Gegend herrscht hier ein brutaler Traditionalismus, der alles unterdrückt, was von der altbewährten Norm abweicht. Die junge hübsche Sibel (Damla Sönmez) ist stumm und hat in der Gemeinschaft damit schlechte Karten. „Zum Teufel mit euch allen!“, pfeift sie mit voller Kraft die Frauen des Dorfes an, die sie aufgrund ihrer Behinderung nicht einmal eines Blickes würdigen. Glück im Unglück für Sibel. Rauchen, Autofahren, ohne Kopftuch draußen sein – als Verstoßene genießt sie so etwas wie einen Sonderstatus.

Sibel got a gun, sie trägt ihr Gewehr über der Schulter, sie hat es immer bei sich und klammert sich daran, wie sich die Kamera an Sibel klammert. Eine ruhelose Mischung aus Bäuerin und Girl Scout, große, grüne Augen, Haare mal offen, mal locker nach hinten gebunden. Der Film zeigt seine Protagonistin liebevoll beim Gehen zwischen dem Zuhause, wo sie für ihren einigermaßen verständnisvollen Vater und ihre gemeine jüngere Schwester Abendessen serviert, der Teeplantage, auf der sie arbeitet, und dem Wald, in dem sie auf Spurensuche geht. Wo sie ganze Nachmittage lang alleine lauscht und wartet. Dieser Wald ist meist hell und nur selten dunkel, dicht bewachsen und überaus sinnlich. Die Lieblingsfarbe des Films ist kräftiges, tiefes Grün; die hier kultivierte Form der Materialität ist die des Wühlens im Unterholz, einer Vermischung aus Schweiß und Staub und des umfassend einsetzbaren Speichels.
Allegorie auf die Allgegenwärtigkeit der Gewalt

Es hätte so viel Vergnügen bereiten können, hätte sich der Film von Çağla Zencirci und Guillaume Giovanetti einfach mal zu einem Rape-und-Revenge entwickelt. Wie toll es wäre, wenn zum Beispiel die bunten Kopftücher in der Berglandschaft zu klar erkennbaren Zielscheiben für Sibels direkt und symbolisch gemeinte Schießfertigkeit geworden wären. Aber nein, so etwas kommt in Wirklichkeit nicht vor. Darum versucht Sibel, was viel wahrscheinlicher ist, die Akzeptanz der anderen zu verdienen, indem sie ihnen einen Gefallen tut. Im Wald gebe es einen Wolf, sagt man, ihn will Sibel jagen und töten. Aber sie sucht am falschen Ort.

Dieser Wolf, um den es hier geht, ist kein echter und kein Märchenwolf, kein Gegenbild zum Menschen, nicht das erotisch Lockende und steht nicht für eine Form des Ausbruchs in die Freiheit. Vielmehr – das legt der Film zum Schluss nahe – ist er eine Allegorie auf die Gnadenlosigkeit und Allgegenwärtigkeit der Gewalt, für Aberglauben, verlogenes Familienehre-Gerede, Selbstjustiz und haarsträubende Empathielosigkeit, die für die Reproduktion des Status quo im Dorf sorgen. Parallel dazu wird im Fernsehen – das bekommen wir mit – auf allen Kanälen Angst vor Terroristen geschürt. Das Ausmaß der Gewalt, das die Filmemacher hier anreißen, ist damit sehr breit, zu breit, als dass sie es zu fassen bekämen, zu profan, zu kleinteilig, undurchsichtig, nicht fotogen genug. Das Problem, das man hier ahnen kann, beschränkt sich nicht auf die Lage der Frauen in der heutigen Türkei. Leider will der Film es sich mit dieser reduzierten Lesart leicht machen.

Er setzt auf seine Protagonistin, die nicht wirklich komplex ist, aber dafür wunderbar energisch. Sibel ist, auch trotz des Overactings, eine starke Figur in einem Film, der ein Gefühl des Unfertigen und schlecht Durchdachten hinterlässt, der sich selbst weder eine echte Revolte noch eine sinngemäße Auseinandersetzung mit den Verhältnissen zugesteht. Alles andere als subtil erzählt, mit deutlichem Gut-Böse-Dualismus, im realistischen Stil, aber doch lieber mit gutem Ausgang. Am Schluss deutet der interessierte, beinahe schüchtern-solidarische Blick eines Dorfmädchens eine mögliche Veränderung an. Für einen Film, der über Unterwerfung und Aufbegehren erzählen möchte, kann so ein Ende nur ärgerlich sein.
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