Short Term 12 – Stille Helden – Kritik
Aus angerissenen Geschichten rund um ein Betreuerpärchen in einem Jugendheim webt Destin Cretton einfühlsam und mit dramaturgischem Feinsinn die Erzählung einer fragilen Solidargemeinschaft.

Sammy stürzt aus dem Haus und rennt schreiend über den Rasen, nur ein paar Meter trennen ihn noch von der Grenze des Grundstücks. Grace (Brie Larson) und Mason (John Gallagher Jr.) kennen das schon; nach resigniert-amüsiertem Blickwechsel hasten sie dem hysterischen kleinen Jungen hinterher, holen ihn bald ein und halten das strampelnde Bündel so energisch wie liebevoll fest, seine wüsten Flüche geflissentlich ignorierend. So weit sei Sammy ja noch nie gekommen, lobt ihn Mason kumpelhaft, als ginge es um eine neue Bestlaufzeit. Dabei weiß der Betreuer des Auffangheims für verhaltensauffällige Jugendliche, das dem Film seinen Namen gibt: Jenseits der Grenze endet sein Einflussgebiet, und zum Aufenthalt zwingen darf er die Kinder nicht. Die Szene rahmt Short Term 12, und wenn Sammys Ausbruchsversuch zu Beginn mit wackelnder Handkamera, am Ende in elegischer Zeitlupe gefilmt wird, der Junge einmal mit nacktem Oberkörper, einmal mit einer US-Flagge als Cape über den Rasen prescht, dann markieren diese Tempo- und Pathos-Verschiebungen weniger einen grundlegenden Wandel der Situation als unseren gewandelten Blick auf die kleine Community, als die Regisseur Destin Daniel Cretton die Bewohner des Heims verstanden haben will.
Blutige Nagelränder auf beiden Seiten

Der Wirkungsbereich von Grace, Mason und dem noch etwas unbeholfenen neuen Betreuer Nate (Rami Malek) ist aber nicht nur räumlich, sondern auch zeitlich begrenzt; spätestens mit ihrer Volljährigkeit müssen die Jugendlichen in die Welt entlassen werden. So steht etwa Marcus (Ketih Stanfield) kurz vor seinem 18. Geburtstag – und kann sich mit dem Gedanken, das Heim verlassen zu müssen, nur schwerlich anfreunden. In einer berührenden Szene rappt er dem als Beatgeber engagierten, aber zunehmend ins Staunen versetzten Mason eine Hasstirade gegen seine Mutter vor, nur um schließlich zusammenzubrechen – ein harter Diss, der in weichen Tränen endet (die Filmmusik stört diesen Moment etwas zu früh, wie überhaupt einige Sequenzen mit den Jungdarstellern etwas mehr inszenatorisches Aushalten verdient gehabt hätten).

Marcus ist der Dienstälteste der heterogenen Gruppe, die aggressionsgestörte Jayden (Kaitlyn Denver) ist die Neue – und die Beziehung zwischen ihr und Grace drängt langsam ins Zentrum der Erzählung. Schon früh verrät ein Close-up auf Grace’ nervös ringende Hände, dass es angesichts des Neuankömmlings um ihre eigene Stabilität nicht mehr so gut bestellt ist; und diese ringenden Hände, der nervös in den Daumenballen gepresste Zeigefinger, der blutig gekratzte Nagelrand werden zum visuellen Leitmotiv, das die beiden jungen Frauen aneinander bindet. Dabei entsteht bisweilen der Eindruck einer etwas schematischen Spiegelung von Betreuerin und Betreuter – und dass in der ursprünglichen Kurzfilmfassung von Short Term 12 der Grace-Part noch ein männlicher war, macht den Gedankengang, der zu einem direkten weiblichen Widerpart führte, auch am Material sichtbar. Doch indem er die beiden Figuren so deutlich spiegelt, wirft Cretton eben auch eine wichtige Frage auf: Verstehen wir Probleme, die wir selbst zu kennen glauben, besser und können anderen bei ihrer Überwindung helfen? Oder ist dieser Glaube eine gefährliche Schimäre, weil wir eine Situation einzuschätzen meinen, die schließlich doch eine jeweils andere, eine jeweils individuelle ist?
Die Psyche der Verhältnisse

Mit zunehmender Dauer wird die Vergangenheit von Grace dann sogar zum hauptsächlichen Interesse des Films (und dabei gleichwohl etwas zu stark suspensemäßig aufgeladen). Der Blick auf die Betreuerin verhindert, dass Short Term 12 auf eine harmonisch ausbalancierte Problemkid-Collage hinausläuft. Indem er das psychisch selbst prekäre Umfeld der Erzieherin beleuchtet, ist der Film zwar nicht automatisch gefeit gegen jene manchmal noch durchschimmernde Helden-des-Alltags-Verklärung, die etwa der deutsche Untertitel auszubeuten sucht. Doch steht im Zentrum eben weder die arme Jugendliche noch die sich aufopfernde Betreuerin, sondern das Verhältnis zwischen ihnen, und dieses kann erst durch das Einspannen von Grace’ Biographie zu einem solchen werden. Die kleinen Wahrheiten, die hier gefunden werden können, verstecken sich stets in Beziehungen wie der zwischen Grace und Jayden, niemals in einer von sozialen Situationen abstrahierten Psyche nur einer Figur.
Keine Romantik, kein Porno

So überlagern sich in Jaydens und Grace’ Interaktion ständig flackernd mehrere Ebenen: die Begegnung auf Augenhöhe und das Betreuer-Betreute-Gefälle, das intuitive Verständnis füreinander (das seinerseits Hierarchien durchkreuzt) und das Gewahrwerden der Alterskluft (etwa wenn Jayden nach Grace’ bloßer Erwähnung eines Discmans ein „Mann bist du alt!“ entschlüpft). Dass nicht nur in dieser Beziehung das Fragile wie das Solidarische in Short Term 12 stets gleichermaßen präsent sind, diese den ganzen Film durchziehende Balance ist kein Zeichen erzählerischer Kompromissbereitschaft, sondern Gestus eines Erzählers, der sich weigert, seinen Stoff und seine Figuren den Bedürfnissen der Sozialromantiker einerseits, der Sozialpornografen andererseits auszuliefern. Weder Überzuckerung noch grell ausgestelltes Leiden sind Crettons Sache, dazu ist ihm der Stoff zu wichtig, die Figuren zu nah.
Short Term 12 bewegt sich so meist beeindruckend selbstbewusst, ja fast lustvoll zwischen Erbauung und Miserabilismus hin und her – wohlwissend, dass diese beiden Pole als Fluchtpunkte dem Erzählten innewohnen, dass sie im Erzählen selbst aber auf Abstand gehalten werden können. Dieses unbeschwerte Erzählen, das die angerissenen Fragen deshalb freilich nicht auf die leichte Schulter nimmt, überträgt sich dann auch auf den Umgang mit den Messages, die Sujets dieser Art gern induzieren. Crettons Film predigt nicht individuelle Verantwortung, weiß aber, dass man mit manchen Dingen alleine ist; er ist kein mit therapeutischer Hoffnung durchtränkter Appell zur Kinderrettung, weiß aber, dass nicht jedes Gesprächsangebot ein problematischer Übergriff ist; dass reden tatsächlich helfen kann. An Stelle einer Moral von der Geschicht’ setzt er eine Ethik, die um ihre Begrenzungen weiß, eine Ethik des short term, die weniger harte Schicksale und leidende Opfer kennt als schwierige Lebensphasen und ihre unerträglichen Schmerzen.
Neue Kritiken

Amrum

A Letter to David

Wenn du Angst hast nimmst du dein Herz in den Mund und lächelst

The Smashing Machine
Trailer zu „Short Term 12 – Stille Helden“

Trailer ansehen (1)
Bilder




zur Galerie (11 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.