Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien – Kritik

VoD: German Traumata privat. Bettina Böhler betreibt in Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien filmische Nachlassverwaltung und arbeitet sich an dem ab, was vom Künstler Christoph Schlingensief geblieben ist. Als Sidekick immer mit von der Partie ist Deutschland.

Am Anfang sind da der Urknall und die Dinos. Nicht weniger als das eigene Leben will der Mann mit den wuscheligen Haaren und der Kreide in der Hand an dem Zeitstrahl auf dem Boden festhalten. Ein größenwahnsinniges Unterfangen, weshalb er sich im Malen schließlich selbst fragt, wie es eigentlich gehen soll, all die Irrungen und Wirrrungen zu notieren, den einen Beginn und das eine Ende zu setzen. Er fügt weitere Stationen hinzu, die Geburt in Oberhausen, die Operninszenierungen in Bayreuth, Krankheiten und Niederschläge, verbindet die Punkte durch Linien, die sich immer mehr durchkreuzen und mit ihren Bahnen die Totalität des Zeitstrahls zerschlagen. Christoph Schlingensief kniet am Boden und streicht Geschriebenes frenetisch durch. Seit dem Urknall und den Dinos gebe es auf der „Arbeitsfläche Erde“, wie er formuliert, eine Energie. Und obgleich er Esoterik vehement von sich weise, sei die eben da, konstatiert er, und sie werde bleiben. Selbst wenn sie nicht mehr „Christoph Schlingensief“ heiße.

Die Energie wird bleiben

Eine Bemerkung zwischen poetischer Verklärung und totaler Hybris; ein Wille zur Bedeutung, komprimiert in einem unscheinbaren, nachgeschobenen Satz, von dessen Sorte sich in Bettina Böhlers Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien viele finden lassen. Die kleinen Sätze bekommen durch den Tod des Protagonisten ein anderes Gewicht, wirken sie doch wie an eine Nachwelt, die Post-Schlingensief-Welt, adressiert. Sie mögen tröstlich erscheinen; bei weiterem Nachdenken über sie entfaltet sich in ihnen allerdings ein Grusel, weil sie ein Gespenst beschwören, das überzeitlich unterwegs ist und umhergeht. Es ist das, was diesen Film als Gestus durchdringt: das kontinuierliche, nüchterne Verweisen darauf, dass da eine Person nicht mehr da ist und fehlt, als Mensch, Freund, Künstler und Diskursfigur – aber dass ein mythisches Etwas, das sich vielleicht Energie nennen ließe, vielleicht Vermächtnis, noch existiert, zombieartig weiter läuft, halt einfach nicht wegzukriegen ist.

Schlingensief: Provokateur, Enfant terrible, Apothekersohn. Zeit seines Lebens setzte er sich mit dem Sterben auseinander, zuletzt aufgrund einer Lungenkrebserkrankung, der er 2010 schließlich erlag und die er in der Inszenierung Eine Kirche der Angst vor dem Fremden in mir künstlerisch be- und verarbeitete. Der Workaholic schrieb, filmte, moderierte, inszenierte, musizierte, protestierte. Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien beschäftigt sich mit all diesem Output, zählt auf, fügt zusammen. Bisher unveröffentlichte und neu digitalisierte Archivaufnahmen stehen neben Ausschnitten aus Interviews, Fernsehauftritten und seinem Schaffen, das bestens dokumentiert scheint. Böhlers Film ist Rundschau, eine analytische Bestandsaufnahme, die ihren Ausgangspunkt fast klischeeartig in der katholisch-rheinländischen Kindheit Schlingensiefs nimmt. Dabei ist interessant, dass Regisseurin Böhler eigentlich als Filmeditorin tätig ist, mit Oskar Roehler und Christian Petzold arbeitete. Auch Schlingensiefs Filme Terror 2000 – Intensivstation Deutschland (1992) und Die 120 Tage von Bottrop (1997) wurden von ihr montiert. Nun übernimmt sie die doppelte Aufgabe von Regie und Schnitt und versammelt haufenweise Material wie Personal.

Drei Kinder eher sachlich, drei Kinder ballaballa

Die Frage danach, wie sich ein vergangenes Leben erinnern, festhalten und ordnen lässt (abgesehen von der Option des Zeitstrahls, die Schlingensief selbst ja schon aushebelt), ist maßgeblich für Böhlers Film, betreibt er doch eine Art filmische Nachlassverwaltung. Obgleich er eine Chronologie erprobt, kommt Schlingensief per Ton und Bild aus immer wieder unterschiedlichen Zeiten hinzu, ein Schlingensief im Plural also; Schlingensiefe, die bereitwillig Anekdoten ausplaudern und über den Blick auf die Welt und sich selbst sprechen. „Das bin ich. Da war ich noch jung“, sagt einer von ihnen mal sachlich mit Blick auf ein Foto. Und ein anderer: „Es geht immer um die Perspektive.“ Neun Jahre lang hätten Mutter und Vater Schlingensief versucht, ein Kind zu bekommen, wie an einer Stelle des Films erzählt wird. „Deswegen bin ich sechs Kinder“, fasst Sohn Christoph zusammen, „drei Kinder eher sachlich, drei Kinder ballaballa“.

Es gäbe eine Vielzahl von Weggfährt*innen aus Film und Theater, die sich leichthin für ein Zuschalten und Kommentieren anbieten würden: Tilda Swinton, Udo Kier, Helmut Berger, Sophie Rois, ein junger Helge Schneider. Böhlers Film kommt ohne sie aus, rückt stattdessen Schlingensief selbst in die Position des Erzählers, eine Rolle, die dieser märchenonkelartig und bereitwillig ausfüllt; ja bei der Sichtung entsteht gar der Eindruck, dass der Modus der Selbstbeobachtung und permanenten Selbstvermittlung von seinem Auftreten und Sprechen, seiner Alltagsperformance gar nicht loszulösen ist.

Reizüberflutungsästhetik

Dennoch ist Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien nicht nur Bühne für eine charismatische One-Man-Show und Porträt eines Künstlers, der ein besonderes Interesse an einer Reizüberflutungsästhetik und Momenten der Reibung hatte. Vielmehr will Böhlers Film den politischen Künstler Schlingensief zur Schau stellen, ihn in seiner Gesellschafts- und Medienkritik verständlich machen. Und das ist eigentlich schade, weil sich die Aktionen von Schlingensief (wie beispielsweise 1998 seine Einladung an sechs Millionen Arbeitslose, gemeinsam im Wolfgangsee zu baden, um das angrenzende Ferienhaus von Helmut Kohl zu überfluten) nicht so einfach auflösen lassen, ihre Qualität genau aus der Frage danach beziehen, wie ernst das denn jetzt eigentlich gemeint ist, wo genau eine Wirklichkeit aufhört und das Kunstwerk anfängt: in der Aktion selbst, in ihrer Ankündigung oder in der Debatte, die sie anstoßen kann? Provokation, Destabilisierung, Verausgabung sind Schlingensiefs Arbeitsprinzipien. Böhler bedient sich an seinem Interesse daran, Überlagerungen und Überforderung herzustellen, alleine durch die Fülle an Material und O-Tönen im Film.

Sie zeigt Schlingensief als cleveren Beobachter seiner Zeit, der Störungen und Tabubrüche gezielt nutzte, um Grenzen aufzuweisen, einen Diskurs sichtbar zu machen. Die Sprache des Apothekersohns ist unterdessen eine, die in ihrer Schlagkraft auf Plakaten und Stickern Platz hätte und in der gelegentlich in der Reflexion über die „gesellschaftliche Heilung“ die Hygienevorstellungen vom Apothekervater und Nazi-Deutschland zusammenfallen – German Traumata, ganz privat. Von Schlingensiefs Sprachgewalt lässt es sich schwer lösen, auch den Film fängt sie ein. Auffallend viel screentime gibt Böhler der (künstlerischen) Auseinandersetzung Schlingensiefs mit dem Nationalsozialismus und dem, was als internalisiertes, rassistisches Denken in einem deutschen Diskurs bezeichnet werden kann.

„Das ist natürlich alles schon da“, betont er, als er in einem Interview über die Übergriffe in Rostock-Lichtenhagen von 1992 nachdenkt. Und wie Schlingensief da über die Gesellschaft spricht, die dieses gewaltvolle, menschenverachtende Verhalten hervorbringt, wie er die Verschiebung einer Mitte nach rechts diagnostiziert und darüber, dass eben auch er damals „anfällig“ oder „gefährdet“ gewesen sei, Geschichte auch noch lange nicht genug aufgearbeitet sei (sich also noch nicht produktiv an ihr gerieben und sie abgenutzt wurde, um es in seinen Worten zu sagen), das ist schon bemerkenswert.

Eine Schleife von Erinnern und Vergessen

Es verwundert also kaum, dass Deutschland in Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien als Sidekick in Erscheinung tritt, der Protagonist demzufolge in Böhlers Film immer nur mit ihm zusammenzudenken ist. Deutschland ist Faszinations- und Hassobjekt eines Künstlers, der sich der Faszination am Größenwahnsinnigen und dem, was sich nicht kontrollieren lässt, hingibt; der 16 Jahre Kohl erlebt hat und sich mehr oder minder offensiv daran abrackert, wie Demokratie aktiv gestaltet werden muss, welche Grenzen dafür im Rahmen der Kunstfreiheit überschritten werden können. Dabei tritt ein Deutschland auf, das sich in einer Schleife von Erinnern und Vergessen eingerichtet hat. Schlingensief – In das Schweigen hineinschreien reiht sich dort ein, ist filmgewordener letzter Wille, etwas zwischen Mythosbildung und wehmütigem Abgesang. Ein Film, der immer wieder indirekt danach fragt, was dieser Künstler denn zur Jetztzeit sagen würde. Die satirischen Werke Schlingensiefs interessierte eine Überhöhung von Welt, worin sie einer Wirklichkeit viel näherkamen als genaue Rekonstruktionen. Vielleicht aber ist die Realität selbst nun so überhöht, dass es nicht mehr höher geht. Strategien müssen neu gefunden werden.

Der Film steht bis 20.10.2022 in der ARD-Mediathek.

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