Sauvage – Kritik
Der Heilige, der auf den Strich ging: In seinem Langfilmdebüt Sauvage spielt Camille Vidal-Nacquet sämtliche Möglichkeiten der Wildheit durch und landet bei der bedingungslosen Zärtlichkeit.

„Wild“ hat Camille Vidal-Nacquet seinen Film über einen 22-jährigen Sexarbeiter genannt, und tatsächlich durchziehen Sauvage einige Spielarten der Wildheit, nicht zuletzt die, die man gemeinhin mit Straßenprostitution in Verbindung bringt: verbale Gewalt, körperliche Gewalt; Gewalt, die von Kunden ausgeht, Gewalt, die von Prostituierten ausgeht; Gewalt außerhalb der Dienstleistung, Gewalt als Teil der Dienstleistung, etwa bei einem „Klavierspieler“ genannten Kunden, der – so spricht es sich in der losen Gruppe herum – auf „Blut und Folter“ steht. Da ist auch der Mangel an Hygiene: „Er stinkt“, sagt ein Kunde über den obdachlosen Protagonisten, der sich ab und an das Gesicht im Abwasser wäscht. Ebenso der Mangel an medizinischer Pflege: Ziemlich zugerichtet sei er, stellt eine wohlwollende Ärztin fest, in dessen Fänge der Protagonist zufällig geraten ist. Sauvage changiert zwischen diesem wilden Körper – das heißt: dem lädierten, dem misshandelten, dem drogenabhängigen Körper – und dem wilden Begehren für diesen Körper. Wild ist dieses Begehren nicht etwa, weil es ungestümer ist als das nicht-kommerzielle, sondern weil seine Befriedigung in Sauvage ohne Rücksicht eingefordert wird.
Die Verneinung der Zeit

Wie Grenzposten säumen männliche Prostituierte eine Straße, die durch einen Wald führt. Sauvage kehrt immer wieder zu dieser Szene zurück und findet in ihr eine beunruhigende Ruhe. Die Männer haben etwas von Schaufensterpuppen, unwirklich, seltsam erstarrt, im Hohlkreuz, das T-Shirt scheinbar lässig in der Hosentasche zusammengeknäult. Sauvage folgt einem von ihnen, fängt dabei ein paar andere ein, die um ihn kreisen, rekonstruiert aber keine Schicksale. Den Protagonist gibt es nur, es kann ihn nur im Augenblick geben. Der Film löst ihn aus allem, was in ein Früher weisen würde, wie er sich insgesamt durch eine radikale Verneinung von Vergangenheit und Zukunft auszeichnet. Schweigen, als die Ärztin nach den Eltern fragt. Selbst sein Name bleibt uns verborgen, was ihn vollends zu einer losen Figur macht, die sich von Kunde zu Kunde hangelt und seinen Platz findet in fremden Autos, fremden Zimmern, in fremden Fantasien und fremden Rollenspielen. „Nenn mich, wie du willst“, sagt der Protagonist einem Kunden und bringt damit seine Losung auf den Punkt: das Sein im Augenblick, das Sein für den Augenblick. Denn eine Zukunft hat er auch nicht. Als die Ärztin vorschlägt, ihm aus der Drogenabhängigkeit und der Prostitution zu helfen, ist er ratlos: Wozu? Nicht resigniert, sondern schlicht im Unvermögen, etwas anderes zu wollen.
Die noble Wildheit

Sauvage reizt die Bedeutungsvielfalt der Wildheit aus, zeigt Unbebautes, Animalisches, Ungezügeltes, Niederträchtiges. Doch dass der Film so eigensinnig ist, liegt an einer anderen Form von Wildheit, die den Protagonisten vor Mitleid bewahrt, einer noblen Wildheit. Eine Wildheit, die nicht der Kultiviertheit gegenübergestellt wird, sondern der Verderbnis. Der Held ist wild, das heißt hier: in einem natürlichen Zustand belassen, vom Menschen nicht verdorben. Er besitzt nichts, will nichts besitzen, lehnt ratlos ein Smartphone ab, das ihm ein Kollege schenken will. Als er in einen Überfall mitgerissen wird, nimmt er lediglich einen Tacker mit, um seine Jacke zu flicken. Dem Verzicht auf alles Materielle steht die bedingungslose Zärtlichkeit gegenüber, die er spendet. Bedingungslos, weil sie sich nicht an den Umständen stört, daran, dass sie zum Beispiel einem alten, unbekannten, zahlenden Körper gilt. Anders als seine Kollegen küsst der Protagonist, ganz selbstverständlich. Weil er gerne küsst, weil er gerne liebt. „Du bist gemacht, um geliebt zu werden“, sagt ein Kollege über ihn. Es ist, als ginge er mit einem Liebes- und Vertrauensvorschuss durch die Welt, bereit, jeden damit zu segnen, ob er sich dessen würdig erweist oder nicht.

Sauvage ist die Geschichte eines Heiligen, der gibt, ohne zu nehmen; der ganz biblisch die andere Wange hinhält, wenn man ihm eine Ohrfeige gibt. Diese Eigenschaft strahlt förmlich durch den Film hindurch und befreit ihn von seiner naturalistischen Schmuddeligkeit. Sie verdammt aber auch ihren Träger. Denn der tut einer weiteren Bedeutung der Wildheit Genüge: Er liebt, aber er ist nicht zu zähmen. Und so ist es unmöglich, in das Trugbild hereinzufallen, das Sauvage am Ende aufspannt, so spürt man mit erschreckender Klarheit, dass hier etwas gegen das unausgesprochene Gesetz des Protagonisten verstößt. Der Ruf der Wildnis, der das sich anbahnende Idyll zerbricht und wie erwartet siegt, wird in der finalen – großartigen – Szene als eben solcher inszeniert.
Neue Kritiken

Tron: Ares

Chained for Life

A House of Dynamite

Amrum
Trailer zu „Sauvage“



Trailer ansehen (3)
Bilder




zur Galerie (13 Bilder)
Neue Trailer
Kommentare
Es gibt bisher noch keine Kommentare.