Saudi Runaway – Kritik

Susanne Regina Meures lässt eine saudi-arabische Frau ihren Ausbruchsversuch porträtieren. Saudi Runaway wird vom filmischen Tagebuch zum Thriller.

„Eine junge Frau filmt heimlich mit dem Smartphone die Höhen und Tiefen ihres Alltags hinter Schleiern und geschlossenen Türen“, so lautet der erste Satz zu Saudi Runaway auf der Berlinale-Festivalhomepage. Der Hintergrund: In Saudi-Arabien ist es Frauen nicht erlaubt, ohne männliche Begleitung und Vollverschleierung das Haus zu verlassen, noch viel weniger ein Auto zu fahren oder gar zu reisen. Ein ablaufender Reisepass, dessen Verlängerung der Vater nicht autorisiert, und eine bevorstehende Zwangsheirat werden so zum Ausgangspunkt eines Fluchtvorhabens. Anhand einer Vielzahl insbesondere formal variierender filmischer Tagebucheinträge, aufgenommen mit zwei Smartphones zwischen April und Juni 2019, wird der Zuschauer zum Adressaten und Mitwisser einer Odyssee der Selbstvergewisserung. Wird das Vorhaben umgesetzt? Wird es sogar glücken? Die dokumentarische Form des Films wird in diesem von der Montage unterstützen Stop-and-go aus Anspannung und Pausieren nahezu ins Thrillerhafte gesteigert. Das ist sehr sehenswert.

Schwellen

Die emotionalen Hürden, die die Protagonistin – anonymisiert „Muna“ – nehmen muss, folgen nämlich einem eleganten Nach- und Nebeneinander von realen und symbolischen Transiträumen. Neben die verschlossenen Türen tritt eine Reihe von Fenstern, aus denen heraus oder durch die hindurch sehnsuchtsvoll geblickt wird. Nicht die Türen, sondern diese „Fenster zur Welt“ sind als Schwellen gekennzeichnet und von Phantomen der Gegenwart sowie Fantasien der Zukunft gesättigt. Bei den realen Fenstern geht dieser Blick zunächst ins Leere, da er von Gardinen, Netzen oder Gittern sowie weiteren dahinter liegenden Einzäunungen blockiert wird. Und auf der Fensterbank hinter dem semitransparenten Maschenwerk hüpft – offenbar ist Muna ausgebildet oder wenigstens angeleitet in Sachen Dramaturgie – ein zahmer Vogel. Und tatsächlich wird die deutsch-schweizerische Filmemacherin Susanne Regina Meures vereinzelt als Kollaborateurin des Fluchtunternehmens kenntlich.

Schleier

Die Begrenzungen nach innen erhalten so nach und nach eine aufklärerische Funktion. Die Enge des Lebensraumes wird nämlich vor allem durch Bilder mit Schleiern – wahrlichen Schleierbildern – ausgedrückt: den filmischen Aufnahmen durch den Gesichtsschleier (Niqab) bzw. das traditionell islamische Überkleid (Abaya). Die so erhaltenen schemenhaften Aufzeichnungen von Supermärkten, Straßen und religiösen Plätzen wirken aufgrund ihrer Machart beunruhigend – nicht wegen dem, was sie zeigen. Es sind alltägliche Szenen. Von häuslicher Gewalt, etwa gegen den kleinen Bruder, erfährt der Zuschauer nur durch Voice-over und Kommentar. Vielmehr verstehen wir anhand des Versteckspiels, wie stark der Zusammenhalt zwischen Mutter, Tochter und Bruder in einem patriarchal geführten Haushalt und wie schwer ein Ausbruch aus Abhängigkeit und Verantwortung sein muss.

Schleier und Tücher werden so zum Requisit, das auch als formales Element in den kinematografischen Raum ein- und hier und da gar einem Schnitt vorgreift. Das Motiv der Verschleierung findet sich aber auch im nachträglichen digitalen Unkenntlichmachen der Gesichter aller Familienmitglieder und Passanten wieder – was der emanzipatorischen Selbstthematisierung des weiblichen Körpers, vor allem des Gesichts der Protagonistin, diametral entgegensteht.

Spiegel

Weitere Fenster kommen hierbei ins Spiel. So etwa allerlei Spiegel, mithilfe derer sich Muna in halbnahen Einstellungen selbstbewusst und als Akteurin aufzeichnet und präsentiert: anders als das Pressefoto zum Film suggeriert, stets ohne Verschleierung. Auch das Interface des Smartphones, auf dem die Social-Media-Außenwelt und die filmischen Tagebucheinträge koexistieren, sowie das Upload-Fenster auf dem Notebook, das zwischen Transparenz (der Verfügbarmachung für die Filmemacherin) und „Verschleierung“ (dem Verbergen vor dem kontrollmächtigen Vater) oszilliert, reihen sich hier ein.

Selbst

Überhaupt die Kadrierung: Sie ist das Fenster zu einem zwischen Tradition und Aufbruch befindlichen Selbst. Da Muna heimlich filmt, geht trotz der beträchtlichen Bildkontrolle mit dem Bildausschnitt so manches schief. Authentifizierend wirken daher insbesondere diejenigen Aufnahmen, die nicht in Munas Privatraum aufgenommen sind und als videografische Selfies daherkommen (konterkariert und ins Groteske gesteigert etwa durch das stark akzentuierte Hochzeits-Make-up, das gleichsam social-media-wirksam zur Maske wird), also zuletzt die mutigen und nahezu unverhohlenen Mitschnitte – oft markiert durch eine mittlere bis starke Untersicht. So liegt das Smartphone auch schon einmal offen in der Handtasche, was Muna mit besorgten Blicken von oben beantwortet.

Der Kunsthistoriker und Bildwissenschaftler Hans Belting hat die arabisch-islamische Maschrabiyya (ein vor allem Moscheen schmückendes dekoratives Fenstergitter, das die Räume vor der Hitze und den Lichtstrahlen ausreichend abschirmt, die Innenräume aber zugleich mit wandernden Lichtmalereien überzieht) einmal als Ausdruck einer bilderlosen Kultur interpretiert. Das Fenster ist hier – gemessen an der zentralperspektivischen Konditionierung unseres westlichen Sehens, für das das Fenster paradigmatisch steht – noch nicht Öffnung, sondern „Lichtschirm“. Saudi Runaway hingegen gibt mit der Handykamera, wie sie Muna führt, nun den gesellschaftlichen Binnenraum dem Blick der Welt frei.

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