Revolución – Kritik
„Die einzige Revolution, die in Mexiko zu meinen Lebzeiten stattgefunden hat, ist wohl die von McDonalds.“ Der Kompilationsfilm zu Hundert Jahren mexikanischer Umwälzung.

Es ist alles vorbereitet. Das Willkommen-Banner hängt über dem Dorfeingang, die Einwohner sind versammelt. Die Kapelle wartet auf ihren Einsatz. Tuba-Bläser Armancio, Hauptfigur in Fernando Eimbckes Kurzfilm The Welcome Celebration (La Bienvenida), hat die ganze Nacht für seinen Einsatz geübt. Doch nichts geschieht. Nach einer Weile ertönt über auf dem Dorfplatz installierte Lautsprecher eine Ansage: Man bittet um Geduld, der Gast sei noch nicht erschienen, komme aber sicherlich bald, und dann habe man für einen gebührenden Empfang zu sorgen. Doch auch nach dieser Durchsage dasselbe Bild: Die Straße bleibt leer, kein Mensch am Horizont. Die Bewohner kehren nach und nach in ihre Häuser zurück, schließlich verlässt auch die Kapelle den Platz. Das Willkommen-Banner hängt traurig nach unten. Die letzte Einstellung des Films vermittelt dann doch noch einen Funken Hoffnung: Armancio ist zurückgekommen. Fast ganz allein sitzt er auf einem Stuhl am Dorfeingang, nur seine Tuba spendet ihm Gesellschaft. Armancio hat nicht aufgegeben – er wartet weiter.

Revolución heißt der Kompilationsfilm aus Mexiko, und mit dem Titel dürfte auch klar sein, worauf die Dorfkapelle in Eimbckes Einstiegsepisode wartet. Der Beginn der mexikanischen Revolution jährt sich zum hundertsten Mal, und überall im Land finden zu diesem Anlass pompöse Feiern statt. Politiker halten pathetische Ansprachen und sprechen stolz vom Erbe dieser Revolution, von einem vereinten Mexiko, das noch nicht einmal in ihren eigenen Köpfen existiert. Was aber bedeutet die Episode zwischen 1910 und 1920 wirklich, die der Historiker Adolfo Gilly passend als die „unterbrochene Revolution“ bezeichnet hat? „Was genau feiern wir?“, hat sich Produzent Pablo Cruz gefragt und zehn junge Regisseure gebeten, einen jeweils zehnminütigen Kurzfilm zu diesem Thema zu drehen. Große Namen wie Alejandro González Iñárritu oder Guillermo del Toro sucht man bei diesem Projekt vergebens, alle beteiligten Regisseure haben erst im neuen Jahrtausend mit dem Filmemachen angefangen. Das Ergebnis dieser Talentschau kann sich sehen lassen: Revolución ist ein heterogenes und dabei doch erstaunlich dichtes Werk, das auf kluge Weise und fernab jeglicher Klischees ein Bild der heutigen mexikanischen Gesellschaft vermittelt. Der erstaunliche Einfallsreichtum der Regisseure und die filmische Qualität der Episoden machen das Projekt dabei auch für Zuschauer interessant, die sich nicht so genau mit der mexikanischen Geschichte auskennen.

Anders als in anderen jüngeren Omnibus-Filmen – wie Paris, je t‘aime (2006) oder Chacun son cinéma (2007), von Deutschland 09 (2009) sprechen wir lieber gar nicht – gibt es in Revolución keine einzige Episode, die man eine Enttäuschung nennen könnte. Jeder Beitrag überzeugt auf seine ganz eigene Weise. Der aus der Reise des jungen Che (Diarios de moticicleta, 2004) und Babel (2006) bekannte Gael García Bernal hat für seinen Film Lucio mit vier Kinderdarstellern zusammengearbeitet. Während sich der älteste Junge im Rebellieren erprobt, dem Christentum abschwört und zum Grauen seiner Mutter die Jesus-Figur von der Schlafzimmerwand entfernt, verweigert sein Cousin – beeindruckt von diesem frühen Akt der Rebellion - die Hausaufgabe, patriotische Parolen auswendig zu lernen, und schwänzt die Schule. García Bernals Schauspielerkollege Diego Luna (… mit deiner Mutter auch!, Y tu mamá tambien, 2001; Milk, 2008), dessen Regiearbeit Abel (2010) gerade auf dem Sundance-Festival lief, erzählte am Tag nach der Berliner Premiere von Revolución, dass er bis kurz vor der Deadline noch keine Idee für seine Episode hatte. Die Inspiration kam schließlich, als ihm die alte revolutionäre Parole „Das Land dem, der es bearbeitet“ einfiel. Luna erinnerte sich daran, dass er selbst ein geerbtes Stück Land an der Pazifikküste besitzt, und nutzte das Filmprojekt, um sein schlechtes Gewissen zu beruhigen, dass er als Schauspieler durch die Welt reist, anstatt dieses Land zu bearbeiten. Herausgekommen ist dabei der vielleicht am wenigsten eindrückliche Kurzfilm der Kompilation, der trotzdem großen Spaß macht.

Besonders in Erinnerung bleiben andere kleine Meisterwerke: Neben Eimbckes melancholischem Einstieg begeistert auch die Abschlussepisode von Rodrigo García: Der Sohn von Gabriel García Márquez, der als Einziger nicht in Mexiko lebt und arbeitet, versucht sich an einem filmischen Experiment, das mit Worten nur schwer zu beschreiben ist. In Superzeitlupe, mit eindringlicher Klaviermusik unterlegt, filmt er mexikanische Passanten in Los Angeles – Fußball spielende Kinder, auf ihren Handys tippende Geschäftsleute und geschminkte Teenager. Zwischen die Füße dieser Passanten mischen sich auf einmal Pferdehufe, und schließlich reiten archaisch wirkende Revolutionäre mit ernsten Mienen und altertümlichen Gewehren über die Kreuzung. So werden wir daran erinnert, wie oft historische Darstellungen der mexikanischen Revolution verschleiern, dass es echte, „gewöhnliche“ Menschen waren, die neben den noch heute populären Helden Zapata und Villa für eine Verbesserung der Lebensverhältnisse eingetreten sind. Er habe sich gefragt, erzählt García, ob es noch einen Bezug gibt zwischen den Mexikanern, die heute massenweise in den Vereinigten Staaten leben, und denen, die zwischen 1910 und 1920 für die Revolution gekämpft haben. Diese visuell atemberaubende Reflexion bildet einen passenden und nachdenklichen Abschluss für den Film.

Garcías Beitrag ist der einzig deutliche optische Bezug zur Revolution selbst, aber auch andere Episoden zitieren die Figuren der Epoche. Etwa Rodrigo Plá, der in seiner Episode 30:30 den (fiktiven) Enkel des legendären Revolutionärs Pancho Villa zu seinem Protagonisten macht. Dieser wird von Auftritt zu Auftritt gekarrt: eine Wahlkampf-Veranstaltung, die Eröffnung einer Schule, die Einweihung eines Straßenschilds. Überall darf er freundlich lächeln, Hände schütteln und sich feiern lassen, aber nie selbst ans Mikro treten, um etwas zu sagen. Die Episode erweist sich als bissige Satire auf die selbstherrliche politische Klasse Mexikos, der es in den 1940er Jahren endgültig gelungen war, die Revolution für sich zu vereinnahmen und für den eigenen Machterhalt nutzbar zu machen. Plá zeigt mit bissigem Humor, wie diese Revolution zu einem Symbol geworden ist, das für alles und nichts stehen kann.

Nur fünf Prozent der Filmschaffenden in Mexiko seien Frauen, erzählt Mariana Chenillo auf der Podiumsdiskussion einen Tag nach der Premiere von Revolución. Sie ist eine von zwei an diesem Projekt beteiligten Regisseurinnen und klingt regelrecht optimistisch, wenn sie behauptet, die heutige Zeit ähnele zumindest in Ansätzen der Zeit vor der Revolution. In ihrem Beitrag La Tienda de Raya wehrt sich eine Supermarkt-Angestellte dagegen, dass sie einen Teil ihres Gehalts in Gutscheinen erhält, mit denen sie die anstehende Zahnoperation nicht bezahlen kann. Chenillos Kollegin Patricia Riggen hat mit El Funeral den heitersten Teil des Films abgeliefert. Es geht um eine in den USA lebende Mexikanerin, die den kurz vor seinem Tod geäußerten Wunsch des Vaters nach einem Begräbnis in der Heimaterde erfüllen soll. Wie sie zusammen mit der Mutter und der auf der Rückbank sitzenden, zuweilen ins Schräge kippenden Leiche durch die Grenzkontrolle gelangt, ist die vielleicht komischste Szene der 110 Minuten. Sie bildet das Gegenstück zur brutalen Episode C-300 von Gerardo Naranjo, die zum größten Teil auf einer Autobahnbrücke spielt. Dieser rätselhafte Kurzfilm wird dem Zuschauer noch lange in Erinnerung bleiben. Naranjo selbst verweigert jede Interpretationshilfe und will den Film als eine rein persönliche Verarbeitung der alltäglichen Gewalt verstanden wissen, die man im heutigen Mexiko über die Medien vermittelt bekommt.

Das Herzstück von Revolución sind schließlich die Episoden von Carlos Reygadas und Amat Escalante. Reygadas, der durch den internationalen Festival-Erfolg seiner Filme Battle in Heaven (Battala en el cieolo, 2005) und Stellet Licht (2007) sicherlich der renommierteste der zehn Regisseure ist, hat sich für seinen Beitrag Este es mi Reino entgegen jeder Erwartung der Mittel des Dokumentarfilms bedient: Mit verschiedenen Kameras lässt er eine fast anarchistisch anmutende, aber doch typisch mexikanische Fiesta filmen. Nach diesem Ansatz befragt, erklärt Reygadas, er wollte sich jedem Bezug zu den seiner Ansicht nach toten Konzepten wie politischen Institutionen oder mexikanischer Landesgeschichte verweigern und versuchen zu zeigen, wie „die Dinge tatsächlich sind“. Das Ergebnis sind bildgewaltige zehn Minuten, die sich deutlich von den restlichen Episoden absetzen.

Wie die Dinge in der Zukunft einmal sein könnten, das zeigt Amat Escalantes Beitrag El Cura Nicolás Colgado. Zwei Kinder, ein sehr frühes Liebespaar, reiten auf einem Esel durch die Wüste und befreien einen Priester, der kopfüber von einem Baum herunterhängt. Escalante hat den Film in Schwarzweiß gedreht und spielt gekonnt mit Verweisen auf den Esel in Bressons Zum Beispiel Balthasar (Au hasard Balthazar, 1966) und die Filme Luis Buñuels. Am Schluss lässt er seine drei Figuren an einer mehrspurigen Straße stranden, die sie nur nach ausgiebigem Kampf mit einer Absperrung überqueren können. Die Menschen auf der anderen Seite dieses Highways sind nicht zu erkennen, ihre Gesichter bleiben unscharf, als wollten sie nicht erkannt werden. Der Priester und die Kinder betreten die erstbeste Lokalität am Straßenrand und erklären dem ebenfalls gesichtslosen Angestellten, dass sie sehr hungrig sind. Die Lokalität ist eine McDonalds-Filiale. „Die einzige Revolution, die in Mexiko zu meinen Lebzeiten stattgefunden hat, ist wohl die von McDonalds“, erklärt Escalante zu seinem Film und liefert damit die denkbar traurigste Antwort auf die Frage, was von der ursprünglich so viel versprechenden Umwälzung übrig geblieben ist.
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