Ray & Liz – Kritik

VoD: Vergilbte Tapeten, krabbelnde Kakerlaken und selbstgebrannter Fusel.  In Ray & Liz macht der Fotograf Richard Billingham die elterliche Wohnung in Birmingham mit exzessivem Detailreichtum sinnlich erfahrbar.

Es mag ziemlich abgegriffen klingen, aber in zweierlei Hinsicht sind die Fotografien seiner Eltern in ihrer Birminghamer Wohnung, die Richard Billingham 1996 in einem Bildband namens „Ray’s a Laugh“ veröffentlichte, direkt aus dem Leben gegriffen. Sie sind es zum einen, wenn man sie so versteht, wie es vermutlich nur wenige Kilometer weiter die cultural studies der Universität Birmingham getan hätten: als eine riesige Anhäufung von Zeichen, deren Bedeutung der äußere Blick ständig entschlüsselt und dabei eine ganze Lebensweise, ein ganzes Milieu erkennt. Dann wäre die wuchtige Erscheinung von Mutter Liz, samt ihren Tattoos auf dem Arm, ihrer unreinen Haut, ihren braunen Zähnen, der Wohnung mit den vergilbten Tapeten, nicht einfach Teil eines Bildes – sie wird Ausdruck und Dokumentation einer englischen Unterschicht.

Und sie sind aus dem Leben gegriffen, wenn man die Spur verfolgt, die ihre Ästhetik hin zu dem Moment legt, in dem sie entstanden sind: Schnappschuss-Fotografien, in denen sich das Blitzlicht als ein weißer Schimmer selbst mit in das Bild eingeschrieben hat. In denen durch die Sichtbarkeit dieser Technik daran erinnert wird, dass nur ein kleines Fragment eines Geschehens konserviert wurde und dass es überhaupt ein Davor und ein Danach dieses Moments gab. Wenn auf den Fotos also eine Katze über Vater Rays Kopf schwebt, wenn er auf einem anderen Bild der Schwerkraft entgegen zugleich steht und fällt oder neben Mutter Liz mit blutendem Gesicht sitzt, ist damit sofort eine Anregung zur Auffüllung verbunden: eine Vervollständigung, die, wenn sie schon nicht weiß, was hier passiert ist, sich wenigstens eine kleine Lebensgeschichte dazu ausdenkt.

Sinnliche Introspektion

Letzteres scheint es nahezulegen, die schon immer in Bewegung begriffene Bilderwelt in einen Spielfilm zu verwandeln: Die Arbeit, sich die Geschichten, die Handlungen und Ereignisse dahinter zu imaginieren, nimmt Richard Billingham den Betrachtern in seinem Spielfilmdebüt Ray & Liz nun ab. Jedoch tut er es keineswegs als eine Art autofiktionales Making-of seines fotografischen Schaffens, eben nicht als Geschichte, die die einzelnen Reenactments seiner Fotografien als dramaturgische Fixpunkte nutzt. Ray & Liz ist in erster Linie ein Film der Ausstattung, der Kostüme und jener Figuren, die, befreit von ihren fotografischen Vorbildern, in einer exzessiv detaillierten Heraufbeschwörung von Billinghams eigenem Elternhaus agieren. In dem der junge Richard samt kleinem Bruder Jay zwischen Zigarettenstummeln, allerlei Tieren und ihren Fäkalien, Rays Alkohol und Liz’ Gewalt aufwachsen.

Und das Beeindruckende ist, wie Billingham uns dabei aus der analytischen Draufsicht zerrt, indem er eine sinnliche Introspektion eröffnet. Wie er Ausstattung, Kostüme und Figuren nicht als Repräsentationen für ein isoliertes Milieu betrachtet – sondern eine von der Außenwelt nahezu abgedichtete Perspektive bietet. Ein Film, in dem die eigens ertastete, erhörte, errochene, erschmeckte und erblickte Lebensrealität nachhallt: die von Zigarettenrauch geschwängerte Luft, der selbstgebrannte Fusel in den Plastikflaschen, die alten Malereien und Poster an der Wand, die Fliegen in der Wohnung und selbst noch der Soziolekt in der Sprache – Billingham lässt all das förmlich haptisch werden, nimmt diese Dinge in ihrer spezifischen Materialität ernst, indem er sie in Ray & Liz sinnlich erfahrbar werden lässt.

Gefülltes Bild, spürbarer Sound, antreibende Handlung

Und dabei weiß er um das Medium, mit dem er arbeitet, weiß genau um seine Konventionen und wie die Audiovisualität des Kinos ihm bei diesem Projekt unter die Arme greifen kann. Etwa um die metaphorische Tradition eines 4:3-Bildkaders, dessen Enge er denn auch nicht den nötigen Interpretationsspielraum gibt, um ihn als Verbildlichung eines sozialen Gefängnisses abzutun. Stattdessen nutzt er den stark gestauchten Blick, um einerseits in den nahen Einstellungen die Patina seiner Dingwelt zu fokussieren: braune Dreckschichten auf den Bildern an der Wand, Staub und Brandflecken auf einer Glühlampe, Risse in der brüchigen Zigarettenasche oder eben Liz’ Haut samt verstopften Poren. In den Totalen andererseits füllt er die Kadrierung bis zum Rand – etwa durch die florale Ornamentik, die die Leinwand in unterschiedlichen Erscheinungsformen bewächst und überwuchert: als doppelte Tapetenschichten, bei der die alte an kaputten Stellen unter der neuen hindurchscheint, als Kleid an Liz’ Körper, als Tätowierung auf ihrer Haut und als Häkel-Gardinen vor dem Fenster, durch deren verbrauchtes Weiß das Licht immer etwas gelblich und blass erscheint.

Den Sound des Kinos nutzt Billingham, um die Materialität nur umso präsenter werden zu lassen: das Scharben des Bestecks am Teller, das Schwappen des Alkohols in (Plastik-)Flaschen und der Kehle von Ray. Schläge, die Liz mit ihrem Schuh austeilt, und ins Haus dringendes Wetter: Regen, Donner, scharfer Wind, der ab und zu durchs Fenster pfeift. Auch das Bellen des Hundes, das Herumrennen der Mäuse auf ihrem Streu, das Piepsen und Krächzen des Kanarienvogels, das Krabbeln der Kakerlaken auf dem dreckigen Boden, das Surren der Fliegen und selbst noch ihr Herumklettern auf den Glasflaschen: immer wiederkehrende Präsenzen auf der Tonspur, deren Anwesenheit selbst noch spürbar bleibt, wenn das Bild schon einen Schnitt weiter ist.

Und nicht zuletzt ignoriert der Regisseur auch souverän das identifikatorische und analytische Potenzial der Narration, lässt diese eher wie einen reinen Motor der Handlung erscheinen. Ein einfach antreibender Vektor der Figuren, deren Reibung mit der Welt erst den sinnlichen Zugang ermöglicht. Da schneit am Anfang etwa der trottlige Schwager vorbei, der den schwappenden Alkohol überhaupt erst aus dem Keller voller Kakerlaken holen lässt und die Gläser erst zum Klirren bringt. Der erst die Tiere in Aufruhr versetzt und jeden Satz so lange mit einem slanghaften „aaaaay“ beendet, bis selbst Liz genervt davon ist. Der sich erst ohnmächtig saufen muss, damit sein Kopf am Ende die dumpfen Schläge von Liz’ Schuhen einstecken kann. Narration eben nicht so sehr als Erzeugung von Bedeutung, sondern als der Antrieb einer Produktion von sinnlichem Überschuss.

Wechselseitige Hilfestellung

Dass diese Erzählung in Person des kleinen Bruders Jay die Wohnung irgendwann aber doch mal verlässt, der Blick auf ein saubereres, ein fürsorglicheres Leben freigegeben wird und die Introspektion zugunsten eines Vergleichs mit dem Anderen aufhört, das ist erstaunlicherweise trotzdem nicht unpassend. Eher wirkt es wie ein Hinweis, der die exzessive Adressierung der Sinne auf dem Boden der Tatsachen bleiben lässt, indem er das Abheben in die Sphären einer nostalgisch-verklärenden Wahrnehmung verhindert. Und dabei eben auch nicht den Umgang der Figuren Ray und Liz mit ihren Kindern thematisiert, sondern eher auf den Umgang des Films Ray & Liz mit seinen einzelnen Elementen deutet: auf eine Form, die ihr Sujet nie verachtend, nie sezierend und nie repräsentativ betrachtet und auch nicht in das romantisierende Gegenteil abrutscht. Und auf das Kino, mit dem der Film im engen Vertrauens- und Abhängigkeitsverhältnis steht: weil es dem Film mit seinen audiovisuellen Kräften beim Balanceakt eine unverzichtbare Hilfestellung leistet – und Ray & Liz im Gegenzug jene Kräfte sichtbar macht, von denen jeder Film profitieren dürfen sollte.

Der Film steht bis zum 15.07.2022 in der ARD-Mediathek.

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