Der Fall Raman Raghav – Kritik
Der indische Regisseur Anurag Kashyap erzählt vordergründig von der Jagd auf einen Serienmörder. Daneben wartet er nicht nur mit einer klaren Gesellschaftsanalyse auf, sondern auch mit einer schönen schwulen Pointe.

Raghav (Vicky Kaushal) ist ein Arschloch. Er bringt kaltblütig Menschen um – mal mit einem Hammer, mal mit der Knarre, mal mit bloßen Händen. Während der Arbeit ist er stets auf Koks. Seinem Vater droht er Gewalt an. Seine Freundin Simmy (Sobhita Dhulipala) zwingt er zu mehreren Abtreibungen, verleugnet sie gegenüber seiner Mutter und einmal bringt er in Simmys Anwesenheit eine andere Frau mit nach Hause, um sie dort zu vögeln. Raghav ist Polizist. Seine derzeitige Aufgabe besteht darin, den psychopathischen Serienmörder Raman (Nawazuddin Siddiqui) hinter Gitter zu bringen.
An sich wäre das auch ziemlich leicht, denn Raman taucht wiederholt bei der Polizei auf und gesteht genüsslich diverse Morde – sogar solche, die er gar nicht begangen hat. Allerdings sind diese Geständnisse so offen und bizarr, dass man ihn anfangs für einen Spinner hält und freisetzt. Erst als immer mehr Menschen durch Ramans Eisenstange einen grausamen Tod finden und Simmy ins Visier des Killers gerät, heftet sich Raghav an seine Fersen – zur Freude des Mörders, wie sich herausstellen wird.
Blockbuster zum Peanuts-Preis
Der Fall Raman Raghav (Raman Raghav 2.0) soll mit einem Budget von nur einer halben Million US-Dollar entstanden sein. Ursprünglich wollte Regisseur Anurag Kashyap die reale Geschichte des Serienmörders Raman Raghav nacherzählen, doch die knappe Kasse machte Sets im 1960er-Jahre-Look unmöglich. Stattdessen entschied sich Kashyap für eine fiktionalisierte Verschiebung des Plots ins heutige Mumbai. Der Geldmangel ist dem Film keineswegs anzusehen, ganz im Gegenteil: Narrativ und visuell wirkt er wie ein höchst professioneller Blockbuster. Mit atemloser Spannung durcherzählt, ohne längere Phasen der Entschleunigung – bassgetriebene Musik druntergelegt; coole Kerle und heiße Frauen –, spektakulär in seiner Brutalität, aber zugleich nicht so explizit, dass er das Mainstream-Publikum vergrätzt. Die Gewalt wird oft nur angedeutet und erst im Kopf des Zuschauers vervollständigt.

Nun erhalten aber nicht gerade viele indische Genrefilme eine Einladung in die renommierte Quinzaine des Réalisateurs nach Cannes. Da Der Fall Raman Raghav genau dieser Coup gelang, liegt der Verdacht nahe, dass da „mehr“ dran sein muss. Zwar lässt sich der Film durchaus auch als reines Popcorn-Kino genießen, aber im Vergleich zu den allermeisten US-amerikanischen Mainstream-Werken fällt schon auf, dass Anurag Kashyap düster und grimmig erzählt – und wenig davon hält, das Publikum emotional zu entlasten.
Brüder der Tat: Der Mörder und der Cop
Vor allem aber sickern mit zunehmender Laufzeit immer mehr Momente aus dem Plot, die nicht nur erzählen, sondern etwas aussagen. Diese Momente verfestigen sich nach und nach zu einer – natürlich nur punktuellen, der Handlung stets untergeordneten, aber dennoch klaren – Gesellschaftsanalyse. Während sich Killer Raman in pathologischer Hybris als „Videokamera Gottes“ bezeichnet, nimmt Polizist Raghav genau diese Funktion in einer säkularisierten Form ein. Allerdings überwachen Raman und Raghav die Menschen nicht nur, sie richten sie auch, mitunter richten sie sie sogar hin. Kashyap deutet an, dass zwischen den beiden Figuren, zwischen dem Kriminellen und dem Vertreter der Staatsgewalt, kaum ein Unterschied besteht. Beide schlagen, foltern und morden, beide empfinden Lust daran. Ein deutlicher Fingerzeig auf die real existierende Gewalt und Willkür der indischen Polizei.
Frauen: Eine Kaste für sich

Indien ist in den vergangenen Jahren durch zahlreiche, oft tödliche Massenvergewaltigungen in den Fokus der globalen Aufmerksamkeit gerückt. Eine solche „gang-rape culture“ entsteht nicht per Zufall, ihr Nährboden ist eine tiefsitzende, omnipräsente Misogynie. Auch davon zeugt Kashyaps Film – und zwar nicht innerhalb von reaktionären Clans irgendwo im Hinterland, sondern in der westlich geprägten, urbanen Elite. Polizist Raghav behandelt seine Freundin Simmy wie ein Objekt, verbietet ihr zu widersprechen und droht ihr mehrfach mit Gewalt. Allein, es bleibt nicht bei den Drohungen. Als Zuschauer weiß man auch deshalb irgendwann nicht mehr so recht, wen man wählen würde, wenn man entweder den Killer Raman oder den Cop Raghav in den Knast bringen könnte.
Gay in Bombay
Während der Film Raghav als ebenso sexistischen wie sexgesteuerten Macho zeichnet, scheint dem Killer Raman jegliche Form von körperlichem Begehren abzugehen. Das wirkt zunächst sonderbar, speist sich doch die Mordlust vieler Film-Killer aus ihrem überbordenden oder aber unterdrückten Sexualtrieb. Doch Der Fall Raman Raghav hält zur Erklärung dieses Umstands eine schöne schwule Pointe bereit, die erstaunlich gewagt ist – erstens, weil die indischen Gesetze Homosexualität offiziell immer noch verbieten, und zweitens, weil die staatliche Filmzensur äußerst eifrig ihren Dienst verrichtet. Raman hat zu dieser Wende sogar einen Spruch parat, den sich beziehungsgefrustete Hetero-Männer ins Poesiealbum schreiben können: „Für jeden Menschen gibt es einen passenden Anderen, der ihn vervollständigt. Männer machen nur oft den Fehler, diesen Anderen in einer Frau zu suchen.“
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Kommentare
dok
Ein wahrhaft grossartiger Film, der noch unglaublicher wurde, als ich den Regisseur habe erzählen hören, wo gedreht wurde (unter anderem in seiner eigenen Wohnung, die als Polizeidienststelle herhalten musste) und unter welchen Bedingungen (die Leute in den Strassen sind ungefragt im Film gelandet). Und Geld war kaum aufzutreiben, da in dem Film nicht gesungen oder geheiratet wird und er kein schönes Bild von Indien zeichnet.
Meine Hochachtung hat er auf jeden Fall.
Leander
Mann, warum laufen solche Filme nicht bei uns im Kino, Manno.
2 Kommentare