Polizeiruf 110: Bis Mitternacht – Kritik
VoD: Ein Verdächtiger, zwei Verhörräume und der Drang, ihn zu brechen: Dominik Grafs neuer Polizeiruf macht aus klassischem Suspense eine Art Sportfilm mit zwei Halbzeiten und drohendem Schlusspfiff.

Das Leitmotiv des Polizeiruf 110: Bis Mitternacht (2021) ist eine Digitaluhr, deren Ziffern rot vor schwarzem Hintergrund leuchten. Jede Minute schließt sich ein Kreis aus 60 Lämpchen um die Zahlen. Wir erhalten dadurch eine konstante Verortung in der Zeit sowie einen Marker für ihr unnachgiebiges Verstreichen. Und das feuerrote Glühen lässt keinen Zweifel daran, dass die Zeit knapp ist.

Wenn diese Uhr das erste Mal zu sehen ist, schlägt sie gerade auf 22 Uhr um. Jonas Borutta (Thomas Schubert) sitzt in einem kahlen, weitläufigen Raum mit halbdurchlässigem Spiegel und Videoüberwachung. Um Mitternacht darf er die Untersuchungshaft verlassen – sollte das Verhör bis dahin keinen Nachweis dafür zutage fördern, dass er eine Frau umgebracht und einer anderen zwölfmal in den Rücken gestochen hat. Die ihn durch den Spiegel beobachten, sind sich einig, dass er der Täter ist. Nur nachweisen können sie es ihm nicht. Und Borutta? Der spricht zwar, aber nur über seine psychologische Verfassung und seine Weltsicht. Zur Tat habe er nichts zu berichten. Den Mitarbeitern der Kripo läuft die Zeit also davon.
Eng gefasster Rahmen …

Wenn die Uhr zuletzt eingeblendet wird, ist es kurz nach Mitternacht. Von der folgenden kurzen Coda abgesehen, vollzieht sich die Handlung also fast in Echtzeit. Und das Revier wird auch nur für Rückblenden, Visualisierungen von potenziellen Tathergängen oder nächtliche Impressionen von Traumata, Verlorenheit und Aktionismus verlassen. Der Rahmen ist eng gefasst. Borutta, zwei Verhörräume und der Drang, ihn zu brechen, bilden das Zentrum, von dem nie abgerückt wird. Es handelt sich um klassischen Suspense. Nur macht Bis Mitternacht daraus eine Art Sportfilm.

Der Krimi hat zwei Halbzeiten und eine Nachspielzeit. Einen Seitenwechsel (also einen Wechsel des Verhörraums) und eine Auswechslung (des Verhörenden). Ein Spielfeld, auf das alle Augen ruhen. Unterschiedliche Taktiken, um den mauernden Gegner doch noch in die Knie zu zwingen, um ein passendes Ergebnis auf den Platz zu bringen. In Kabinen, Hinterzimmern und Gängen sehen wir die Arbeit der Entsprechungen von Managern, Trainern und Zeugwarten. Hier werden die Strategien geplant und auf den Weg gebracht. In WCs entlädt sich der Druck als Mageninhalt ins Waschbecken, und auf den Logenplätzen vor den Kameras / hinter dem Spiegel wird unablässig beobachtet, analysiert und geknabbert. Es wird gedroht, und motivierende Ansprachen werden gehalten. Und stets gemahnt die Uhr an den drohenden Schlusspfiff, bevor doch noch der Erfolg eingetütet wurde.
… und impressionistische Offenheit

Im Verhörraum findet das entscheidende Duell statt. Oberkommissarin Elisabeth „Bessie“ Eyckhoff (Verena Altenberger) und Josef Murnauer (Michael Roll) versuchen in den Kopf von Borutta vorzudringen. Das dabei entstehende, recht simple Psychogramm eines frustrierten Inselbegabten, der, frustriert vom Scheitern am anderen Geschlecht, zum Vergewaltiger und Mörder wird, ist aber nicht unbedingt das Glanzstück dieses Matches.

So eng der Rahmen ist, so wenig lässt es sich Regisseur Dominik Graf nehmen, die für ihn bekannte impressionistische Offenheit zu zelebrieren. Parallele Entwicklungen, Erinnerungen, Assoziationen, Vorstellungen, Nebensächlichkeiten verweisen fragmentarisch auf eine offene Welt, die sich nicht auf den einzelnen Fall beschränken lässt. Und in dieser sanften Anhäufung von Mannigfaltigem stechen am ehesten die stillen Psychospielchen beider Seiten heraus – wenn Murnauer Borutta beispielweise einen Becher Wasser einschenkt, dann wirkt diese einfache Geste wie der virtuose Pass eines erfahrenen Spielmachers. Oder die physischen Ausdrücke des inneren Drucks – Nahaufnahmen von abgerissener Haut neben den Fingernägeln oder die weiß gewordenen Fingerglieder, die sich nachdrücklich auf den Tisch pressen.
Ein Gegenstück zu Touch of Evil

Offensiv stehen dabei immer wieder die Bildschirme und der Spiegel im Bild. Sie offenbaren eine Trennwand, die das Duell von denen trennt, die es atemlos anstarren. Bis Mitternacht beobachtet so gleichfalls die Beobachtung des Duells. Und das Ergebnis macht aus einem scheinbar offensichtlichen Fall etwas zutiefst Zweideutiges. Denn wie gesagt, ist jeder auf der anderen Seite des Schirms von der Schuld Boruttas überzeugt. Aus polizeilicher Intuition, die mehr als Fakten wiegt. Aus dem Drang nach Erfolg. Alles, was das Regelwerk hergibt, würden sie dafür tun. Der Leiter der Mordkommision Martin Schaub (Christian Baumann) möchte diesen Erfolg um jeden Preis und wirft mit Drohungen und Verweisen nur so um sich. Wolfi Hader (Daniel Christensen) und Hansi Dorfmeister (Robert Sigl) wollen als polizeiliche Malocher, die sich alles gefallen lassen müssen, auch einfach mal recht haben. Bessie Eyckhoff möchte sich als Frau in einem Machosystem behaupten und durchsetzen, während Murnauer sein Leben nach dem Tod seiner Frau mit Sinn füllen will. Die Befangenheit der Ermittler und deren unbedingter Wille, dem Verdächtigen ein Geständnis zu entlocken, ihre berechnenden Engelszungen kontaminieren das Ergebnis nachhaltig.

Bis Mitternacht lässt seinen Verdächtigen, den psychisch äußerst labilen Boratto, unter all dem Brimborium des Sportkrimis verschüttgehen – und erlangt genau darin seine größte Stärke, die ihn zu einer Art Gegenstück zu Im Zeichen des Bösen (Touch of Evil, 1958) werden lässt. Dort bringt ein korrupter Polizist den tatsächlichen Täter mit gefälschten Beweisen ins Gefängnis, hier verschwindet die Klarheit unter dem unbedingten Willen zum Sieg. In den Besprechungsräumen und Büros des Reviers stehen wie nebenbei auch immer wieder Monitore herum, über die lakonisch und endlos der Bildschirmschoner tanzt. Fast unmerklich steht eine Resignation im Bild, die wartet, dass all der Zinnober bald vorbei ist.
Der Film steht bis zum 05.03.2022 in der ARD-Mediathek.
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